Krieg in Europa: Kein bisschen Frieden

Heftige Kämpfe: Ein ukrainischer Soldat feuert nahe der Stadt Bachmut in der Region Donezk seinen Mörser ab FOTO: AP

Kreml-Chef Putin führt Krieg in Europa. Doch der als Blitzkrieg gedachte Einmarsch in der Ukraine entwickelt sich für Russland zum militärischen Desaster. Ein Ende der Kämpfe ist trotzdem nicht in Sicht. Den Preis zahlt die ukrainische Zivilbevölkerung
VON KAI PFUNDT

Der Ukraine-Krieg steckt in seinem ersten Winter. Wer in Kiew, Charkiw, Cherson oder Mariupol hätte sich vor einem Jahr vorstellen können, dass das Land sich Ende 2022 im Krieg mit einem scheinbar übermächtigen Nachbarn befinden würde? Dass seine Stadt zur Frontstadt werden würde, mit zerbombten Wohnvierteln, zerschossenen Wasserleitungen und Kraftwerken? Dass Familien auseinandergerissen würden, die Männer an die Front gerufen, Frauen, Kinder und Alte ins Hinterland oder ins Ausland geflohen? Trotz der Erfolge auf dem Schlachtfeld: 2023 beginnt für die Ukrainer bitterkalt, dunkel und voller Ungewissheit. 

Über die unmenschlichen Härten eines Winterkriegs geben die Geschichtsbücher Auskunft oder die wenigen Überlebenden der Generation Stalingrad. Aber dass „General Winter“ den Krieg einfriert, trifft heute so wenig zu wie vor 80 Jahren. Mit Raketen und Kampfdrohnen greift Russland trotz militärischer Niederlagen und großer Verluste von eroberten Gebieten weiter an. Im Visier: die ukrainische Infrastruktur. Wasserwerke, Umspanneinrichtungen, Kraftwerke. Zivile Ziele. Frauen und Kinder, Alte und Kranke, alle, die im Winter auf Wärme, Wasser und Licht angewiesen sind. „Putin zielt darauf ab, die Ukraine kriegsmüde zu machen, den Ukrainern das Leben im Winter so schwer wie möglich zu machen, um ihre Widerstandskraft zu schwächen“, erläutert Christoph Heusgen, langjähriger außenpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zynische Strategie. „So ist er schon im Tschetschenien-Krieg und in Syrien vorgegangen.“

Unmissverständliche Worte für diese Art der Kriegsführung findet auch Norbert Röttgen. „Russland ersetzt den militärischen Krieg durch einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung und gegen die zivilen Strukturen der Ukraine“, stellt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag fest. „Das ist Staatsterror, und es ist ein Kriegsverbrechen.“

Vor noch nicht einmal einem Jahr marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Am 24. Februar rasselten die Ketten der ersten russischen Panzer Richtung Kiew. Offensichtliche Ziele der Invasion auf breiter Front, vom Kreml verharmlost zur „militärischen Sonderoperation“: die handstreichartige Eroberung der ukrainischen Hauptstadt, die Absetzung der Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Einsetzung einer moskauhörigen Marionettenregierung, die Annexion weiter Landstriche im Osten des Landes. Ein Krieg, der unter Androhung hoher Strafen in Russland bis heute nicht Krieg genannt werden darf. Ein Krieg, wie er im befriedeten Europa der unverletzbaren Grenzen undenkbar erschien, ein Eroberungskrieg. Eine „Zeitenwende“, wie Bundeskanzler Olaf Scholz wenige Tage nach Kriegsbeginn feststellte.

Allerdings wurde bald klar, dass sich Kreml-Kriegsherr Putin in seinen Annahmen gleich mehrfach verrechnet hatte. Die ukrainische Armee leistete leidenschaftlich und gut aufgestellt Widerstand gegen den russischen Blitzkrieg-Plan. Putins eigene Armee erwies sich im Gegensatz dazu als miserabel organisiert und ausgerüstet. Der Aufstand des russlandfreundlichen Teils der ukrainischen Bevölkerung gegen Selenskyj blieb aus. Und schließlich fiel die Reaktion des Westens ganz anders aus, als Putin es erwartet haben dürfte. Nato- und EU-Staaten ließen sich nicht auseinanderdividieren, sondern verhängten harte Sanktionen gegen Russland und unterstützten die Ukraine mit moderner Artillerie, weitreichenden Raketenwerfern, militärischer Aufklärung und sehr viel Geld. Schweden und Finnland beantragten ihre Aufnahme in die Nato, das Bündnis zeigte Zähne und schickte Truppen und Material an seine Ostflanke. Auch die Bundeswehr ist mit einer „Battlegroup“ von 1000 Soldatinnen und Soldaten in Litauen dabei. 

Gut zehn Monate nach Kriegsbeginn stehen nicht die Ukraine und ihr Präsident Selenskyj mit dem Rücken zur Wand, sondern die russischen Truppen und ihr Kriegsherr Putin – und dies ausgerechnet zum 100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion am 30. Dezember 1922. Jenes kommunistischen Imperiums also, in dem Putin seine Karriere als Geheimdienstoffizier begann und dessen Position als Großmacht mit weltweitem Einfluss er für Russland zurückerobern wollte.

Allerdings ist der Kreml-Chef von diesem Ziel weiter entfernt als zuvor. „Russland kann den Krieg militärisch nicht gewinnen, das wissen wir zu diesem Zeitpunkt“, stellt Röttgen fest. „Ich glaube auch nicht an eine Wende, weil es dafür an allem fehlt.“ So sehen es wegen der hohen Verluste der Russen an Soldaten und Panzern und dem demoralisierten Zustand der Truppen die meisten westlichen Experten. Und obwohl die Staatsmedien nur die rosarote Kreml-Sicht der Ereignisse präsentieren, kann sich Putin auf die Heimatfront nicht verlassen. „Der Krieg ist in Russland nicht populär. Das sieht man an den vielen jungen Männern, die vor der Einberufung ins Ausland fliehen“, beobachtet der ehemalige Merkel-Berater Heusgen.

Kein Wunder. Schon bald nach dem Einmarsch wurde klar, dass der Blitzkrieg-Plan gescheitert war. Die Ukrainer brachten den Russen schwere Verluste bei und zwangen sie zu langwierigen Belagerungen, zum Beispiel der Schwarzmeer-Hafenstadt Mariupol. Mitte April versenkten ukrainische Raketen das russische Flaggschiff „Moskwa“. Mit modernen, vom Westen gelieferten Panzerabwehrwaffen zerschlugen die Ukrainer russische Panzerkonvois. Die Bilder explodierender Panzerfahrzeuge aus den Arsenalen des Kalten Kriegs gingen um die Welt, genau wie die von Gräueltaten gegen die ukrainische Zivilbevölkerung.

,,Der Krieg ist in Russland nicht populär. Das sieht man an den vielen jungen Männern, die vor der Einberufung ins Ausland fliehen"

Im Spätsommer war der russische Vormarsch nicht nur zum Stillstand gekommen. Die ukrainischen Truppen setzten zur Gegenoffensive an und vertrieben den Gegner aus zuvor eroberten Gebieten. Um die Verluste auszugleichen, musste die russische Führung eine Teilmobilisierung von 300 000 Mann anordnen. Die „militärische Sonderoperation“ war in der Mitte der russischen Gesellschaft angekommen.

Trotz der Niederlagen und der Schwäche seiner Armee scheint Putins Macht bislang nicht in Gefahr. Allerdings sind die Erkenntnisse im Westen über die oberste russische Führung beschränkt. „Über die inneren Strukturen des Kreml wissen wir wenig“, gibt Norbert Röttgen zu. „Wir wissen nicht einmal verlässlich, ob es Berater gibt, und wenn, ob Putin auf sie hört.“ Dass dessen Position aber weit weniger unerschütterlich ist als allgemein angenommen, meint etwa der russischstämmige Sicherheitsexperte Pavel K. Baev. Der monolithisch erscheinende russische Machtapparat zeige „vielfache Risse“, schreibt Baev in einer Analyse für die US-amerikanische Denkfabrik „Brookings Institution“. Es sei sicher, dass diese Risse nach den Niederlagen größer würden. Der am Friedensforschungsinstitut in Oslo arbeitende Wissenschaftler hält einen plötzlichen Zusammenbruch des Putin-Regimes für durchaus möglich. Ein Szenario, das auch von deutschen Experten nicht ausgeschlossen wird. „Putin führt den Krieg mittlerweile nicht nur um sein politisches, sondern auch um sein eigenes Überleben. Auch diesen Krieg kann er durchaus verlieren“, meint Röttgen.

Den Ukrainern mögen solche Einschätzungen Hoffnung machen. Wann die Bombardierungen und das Sterben an den Fronten aufhören, kann jedoch niemand sagen. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hofft immerhin auf lokale Waffenruhen, um die Zivilbevölkerung in umkämpften Gebieten zu versorgen. „Wenn sich die Frontverläufe im Winter nicht mehr verändern, dann kann es dafür Bereitschaft geben“, sagte Mützenich dem „Spiegel“. Aus solchen lokalen Entwicklungen heraus könnten „weitere diplomatische Initiativen entstehen, wäre zumindest eine Waffenruhe oder ein Waffenstillstand vielleicht wieder denkbar“.

Allerdings deutet bislang wenig auf eine Deeskalation hin. Viel spricht dagegen für eine Fortsetzung der Kämpfe, vielleicht für Jahre. „Verhandlungen können derzeit keinen Erfolg haben, weil beide Seiten noch an einen militärischen Sieg glauben“, ist Christoph Heusgen überzeugt, der heute die Münchner Sicherheitskonferenz leitet. „Sollte sich die Situation an der Front irgendwann so verfestigen, dass keine Seite mehr auf größere Geländegewinne hoffen kann, könnte man über Verhandlungen weiterkommen. Aber derzeit ist das noch nicht der Fall“, so Heusgen. Frühestens im kommenden Sommer seien Verhandlungen denkbar – aber auch nur dann, „wenn auf beiden Seiten die Erkenntnis reift, dass der Preis für eine Fortsetzung des Kampfs zu hoch ist“.

Doch selbst wenn sich beide Seiten auf Friedensgespräche einigen sollten: Kreml-Chef Putin hat auf internationaler Bühne jedes Vertrauen verspielt. „Sollte es trotz allem zu ernsthaften Verhandlungen kommen, sind wir mit einem weiteren Dilemma konfrontiert: Putins Russland hält sich nicht an Abkommen. Dem Kriegsverbrecher glaubt niemand, dass er es ernst meint“, betont der langjährige Außen- und Sicherheitspolitiker Heusgen. Die Ukraine benötige verlässliche Sicherheitsgarantien von der Nato „bis hin zu einer Mitgliedschaft – sodass die Ukraine nicht alleine dasteht, wenn Putin wieder angreift“.