Wie quälend lang hundert Tage sein können, das hat man in diesem Documenta-Sommer erfahren müssen. Es hat in der fast 70 Jahre währenden Geschichte der lange Zeit bedeutendsten Kunstschau der Welt Documentas gegeben, die gut und gerne 200 Tage hätten dauern dürfen und nicht langweilig geworden wären. Diesmal hat sich das ,,Museum der hundert Tage" selbst aus dem Spiel genommen, wenn nicht gar abgeschafft.
Dabei war es nicht nur der Skandal um antisemitische Darstellungen und dezidiert antiisraelische Inhalte oder die Nähe etlicher Mitglieder des Kuratorenteams zur Israel-Boykottbewegung BDS, die die Documenta 15 im Jahr 2022 prägten und belasteten. Hundert Tage lang standen die Organisatoren unter verschärfter Beobachtung, jederzeit war mit neuen Enthüllungen zu rechnen: Die Documenta-Chefin Sabine Schormann musste bald nach der Eröffnung gehen; die relativ frisch installierte Kulturstaatsministerin Claudia Roth eierte herum, beendete die hundert Tage beschädigt; Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bedauerte im Nachhinein, die Weltkunstschau eröffnet zu haben; Bundeskanzler Olaf Scholz wollte gar nicht erst hin - wie die übrige Politprominenz, die sich bei früheren Documentas gerne im Licht der Kunst gespreizt hatte.
Deutschlands Kulturpolitik erlebte ein Debakel vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Wobei sich die Kritik jenseits der jüdischen Publizistik und der völlig zu Recht etwa vom Zentralrat der Juden formulierten Vorwürfe in Grenzen hielt. Es gab weder ein internationales Documenta-Bashing noch eine breite Abstinenz des Publikums: 738 000 Besucher pilgerten nach Kassel. Das sind zwar deutlich weniger als 2017, als 891 500 Kunstfreunde Kassel und 339 000 das zweite Standbein in Athen besuchten, aber mancher hatte mit einem heftigeren Minus gerechnet.
Die Documenta startete im Juni 2022 als spannendes Experiment. Erstmals hatte man anstatt eines in der Szene bekannten Kurators oder Kuratorenteams mit europäischem oder westlichem Fokus ein ganzes Kuratoren-Kollektiv aus Indonesien berufen, das zumal hierzulande kaum jemand kannte. Die Idee war, dem „globalen Süden" erstmals zu einer breiten Öffentlichkeit zu verhelfen und Initiativen nach Kassel zu holen, die wie das Kuratorenkollektiv Ruangrupa zumindest westlichen Beobachtern zumeist unbekannt waren. Ein Experiment.
Kenner der Kunst registrierten, dass sie nur geschätzt höchstens zehn Prozent der ausstellenden Initiativen und Künstler auf der Documenta auf dem Zettel hatten. Der Rest war Neuland. Das hätte durchaus unglaublich spannend sein können. Allein: Mit Kunst im herkömmlichen Sinn hatten die meisten Initiativen, Aktionsbündnisse und Workshops, die sich auf Einladung von Ruangrupa allen erdenklichen öko-, gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Verwerfungen, Lebensentwürfen von queer bis divers, postkolonialen, totalitären Zusammenhängen widmeten, nichts zu tun. Ein weltumspannender Input, bei dem hundert Tage nicht gereicht hätten, um alles nachzulesen, geschweige denn zu verstehen.
Wer aber wie bisher bei der Documenta hoffte, ein Update in Sachen Kunst zu bekommen, vielleicht zu erfahren, was in diesem durch und durch kommerzialisierten Metier wirklich Sache ist, was debattiert wird, welche Künstlerinnen und Künstler überzeugen und welche nicht, ging 2022 leer aus.
Das an sich perfekte System aus der alle zwei Jahre veranstalteten Kunstbiennale in Venedig, bei der sich einzelne Länder und deren künstlerische Konzepte präsentieren, und das irgendwie darauf reagierende Konzept einer alle fünf Jahre stattfindenden kuratierten Documenta ist gestört. Wenn nicht gar zerstört.
Nun: Nach der Documenta ist vor der Documenta. Vielleicht gibt es Wege, den Scherbenhaufen wegzukehren. Aber bitte nicht unter den Tisch.