Déjà-vu im Schatten der multiplen Krisen: Mit Blick auf Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber verstärken sich die Meldungen von Landräten und Bürgermeistern, die ihre Aufnahmekapazitäten am Limit sehen. Auch in Bonn sind die Möglichkeiten zur Unterbringung ausgereizt, die Unterstützung durch Bund und Land nennt die Verwaltung "ausbaufähig".
Februar 2022: Praktisch Stunden nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine und der sich abzeichnenden Fluchtbewegung schaltet die Stadt Bonn in den Krisenmodus. Um die Menschen versorgen zu können, reaktiviert das Amt für Soziales und Wohnen die Arbeitsgruppe Flüchtlinge", welche aus der Flüchtlingskrise 2015 hervorging. Neben der institutionellen Hilfe setzt die Behörde auf die Solidarität der Bonner und deren Bereitschaft zur privaten Aufnahme. Und tatsächlich: Die Solidaritätswelle reicht von der Stadtverwaltung über Schulen, Kirchen, Vereine und soziale Einrichtungen mit ihren ehrenamtlichen Helfern bis hin zu Unternehmern und Privatleuten, die mit Sachspenden und Unterkünften zur Stelle sind. Nach wenigen Tagen erreichen die ersten Kriegsflüchtlinge Bonn, wo deren mittelfristige Zahl rasch mit 4500 kalkuliert wurde. Vier Wochen nach Kriegsbeginn nimmt die neue Erstaufnahmestelle in Buschdorf ihre Arbeit auf.
Die Stadt Bonn betreut im Dezember 3832 Menschen aus der Ukraine
Neun Monate und eine Welle der Hilfsbereitschaft später betreut die Ausländerbehörde der Stadt Bonn aktuell 3832 Menschen nach ihrer Flucht aus der Ukraine. Doch auch unabhängig vom Ukraine-Krieg leben laut Verwaltung zurzeit rund 10 000 Menschen mit "Fluchthintergrund" in Bonn. 2997 Menschen bringt die Stadt aktuell unter, 1662 von ihnen aus der Ukraine.
„Die Stadtverwaltung stößt bereits jetzt mit der Unterbringung und Integration der Menschen an ihre Grenzen, auch im Hinblick auf Schul- und Betreuungsplätze“, teilt das Presseamt kurz vor Weihnachten auf Anfrage mit. Auf maximale Aufnahmekapazitäten wollen sich die Verantwortlichen nicht festlegen: Man komme "der humanitären Verpflichtung nach" und versuche, "im Sinne der schutzsuchenden Menschen bestmöglich zu agieren“, so die Stadt. Als Oberbürgermeisterin Katja Dörner Anfang Dezember den Haushaltsentwurf für die Jahre 2023/24 in den Rat einbringt, nennt sie auch die multiplen Krisen wie Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation und Klimakrise als Ursachen dafür, dass die Verwaltung bei der Aufstellung des Haushalts "bis an die Schmerzgrenze" gehe. Bei der Aufzehrung von knapp 180 Millionen Euro städtischen Eigenkapitals sind die Auswirkungen von Corona und Ukraine-Krieg noch gar nicht berücksichtigt, werden als Abschreibungen aber ab 2026 haushaltswirksam. Immerhin: Bei aller Anspannung angesichts geht die Verwaltung der Lage Mitte Dezember davon aus, für die Unterbringung nicht erneut auf Turnhallen zurückgreifen zu müssen. Und auch der Abbau der Containersiedlung im Reuterpark erscheint aus Sicht der Stadt rückblickend nicht verfehlt: "Die Containeranlagen am Rheinweg und der Siegburger Straße sind nach wie vor in Betrieb, weitere Containersiedlungen An der Raste und am Herz-Jesu-Kloster in Planung", sagt Marc Hoffmann, stellvertretender Sprecher der Stadt.
Längst geht in deutschen Städten und Gemeinden, aber auch seitens der Bundespolizei der Vergleich zur Flüchtlingskrise des Jahres 2015 um. Mit einer Bewertung, ob sie sieben Jahre später besser auf ein solches Szenario vorbereitet sei als seinerzeit, hält sich die Stadt Bonn zurück: Eine Vorbereitung auf eine Ausnahmesituation sei schwierig, eine ,,,Standby-Struktur" wirtschaftlich für die Kommunen alleine nicht leistbar; zudem müsse Personal erst einmal akquiriert werden. "Insgesamt fordern die Kommunen Bund und Länder auf, eine Aussage zu möglichen Vorhaltekosten der Kommunen zu treffen", so die Verwaltung. Ohnehin: „Die Unterstützung ist ausbaufähig. Es fehlt an ausreichend Informationen und Prognosen, was eine Planung noch erschwert bis unmöglich macht. Die Quotierung der Zuweisungen ist zudem intransparent", fasst Marc Hoffmann die städtische Kritik am föderalen Zusammenspiel zusammen. Nicht zuletzt bleibt an den Kommunen die Erfassung der persönlichen Daten hängen - in Bonn durch die eigens geschaffene Erstanlaufstelle, wo ebenso eine medizinische Untersuchung stattfindet.
Bundespolizei: Deutlich mehr illegale Migration über die Balkanroute
Im Rhein-Sieg-Kreis waren Kommunen wie Rheinbach mit Rücksicht auf die Hochwasserkatastrophe im Juli 2021 bis September von Zuweisungen durch die Bezirksregierung befreit, nahmen aber dennoch Flüchtlinge auf und sind dazu jetzt auch wieder verpflichtet. Die Kapazitäten zur Unterbringung seien erschöpft, heißt es nun auch dort. Unterdessen prüfen Bezirksregierung und Land offenbar, ihre Unterkunft im früheren Landesvermessungsamt in Bad Godesberg erheblich auszuweiten. Wie im Herbst aus internen Mitteilungen hervorgeht, sei angedacht, die Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) von derzeit einigen hundert "auf mehr als 1000 Plätze" zu erweitern. Die könnten auch aus anderen Gründen als dem Krieg in der Ukraine benötigt werden. Wie die Bundespolizei Anfang Dezember dem Redaktionsnetzwerk Deutschland mitteilt, stieg auch die Zahl registrierter illegaler Grenzübertritte über die Balkanroute 2022 bis November auf über 83 000 an (2021: 57 637). Aufgrund der aktuellen Entwicklung zeichne sich ab, dass sich dieser Trend 2023 fortsetzen oder sogar beschleunigen dürfte, so die Sprecherin.
von Rüdiger Franz