Ein schwieriges Jahr

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Der Ukraine-Krieg und seine Folgen verschatten die Bilanz 2022. Hohe Energiepreise und Inflation gefährden den Wohlstand vieler, im Hintergrund bleibt die Klimakrise bedrohlich. Ein Jahr in Moll? Komplett düster ist das Bild nicht

Es ist uns sehr lange gut gegangen. Das wird erst so richtig in diesem Jahr deutlich, weil es nicht mehr so ist. Seit dem Herbst sind viele Büros und Wohnungen kalt, Städte und Dörfer liegen in diesen Wintertagen im Dunkeln, obwohl wir Weihnachten und Neujahr haben. Wir lernen das Verzichten und das Sparen, denn Energie ist teuer, die Lebensmittelpreise steigen. Viele Menschen geraten in Not. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht? Kein Jahresrückblick 2021, kein Ausblick auf 2022 zeichnete dieses Bild.

Der 24. Februar 2022 veränderte alles. Er war kein jäher Abschied vom Frieden, denn es war seit Wochen denkbar, dass es zu einem Angriff auf die Ukraine kommen könnte. Als in der Nacht die ersten Raketen flogen und die russischen Truppen das Nachbarland überfielen, hatten es doch die allermeisten Menschen nicht für möglich gehalten. Seitdem ist Krieg in Europa. Deutschland ist gezwungen, wesentliche Positionen seiner Außen-, Energieund Sicherheitspolitik zu korrigieren, die 30 Jahre Bestand hatten. Zeitenwende nannte Bundeskanzler Olaf Scholz diesen historischen Bruch. Er dürfte recht haben.

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ Das Zitat wird dem griechischen Philosophen Heraklit zugeschrieben, der 460 vor Christus starb. Es gehörte einst zum Bildungskanon deutscher Schüler, war aber seit Jahren vergessen. Denn wer dachte noch an Krieg? Die Bundeswehr klein, ihre Ausrüstung schlecht, die Wehrpflicht ruhend, Deutschland umgeben nur von Freunden. Den Rest an militärischen Fragen überließ man den Amerikanern – Trump hin oder her.

All das ist Geschichte. Olaf Scholz hat wie die meisten Mitglieder des Kabinetts seine politische Prägung in Zeiten der Friedensbewegung erlebt. Die Zahl der Wehrdienstverweigerer ist in den Reihen der Regierung groß. Die Überwindung des Kalten Krieges galt Politikern dieser Generation als zentrale historische Errungenschaft. Dass man die Gegensätze mit Russland durch Handelspolitik überwinden könnte, die vor allem billiges Gas beinhaltete, galt als gesetzt. Schließlich war das bequem für alle und gut fürs Geschäft. Billiges Gas nützte der Industrie und half bei der Abschaffung der Atomkraft: Da saßen Grüne, Liberale, Christdemokraten und die SPD in einem Boot.

Warnsignale wurden verdrängt. Putin entpuppte sich als kühler Stratege, der langfristig denkt und seine Feinde klar im Blick hat. In der Konsequenz reiht er sich bei den verachtenswerten Massenmördern der Moderne ein. Er zeigte seinen Gegnern, dass Imperialismus nach Vorbild des 19. Jahrhunderts nicht tot ist und Krieg eine reale politische Option sein kann. Die meisten kennen den ersten Teil des Heraklit-Zitats. Im zweiten Teil steht, was für die Politik wirklich zählt: Alle Karten werden neu gemischt und zwischen Sieg und Niederlage ist es in Zeiten des Krieges nur ein kurzer Weg.

Die Pandemie? Sie war schnell vergessen. Dafür sorgte die FDP in der Bundesregierung, die alle Präventionsmaßnahmen über Bord warf und sich um Sterbezahlen nicht mehr kümmerte. Stattdessen drehten sich die großen Debatten um den Füllstand von Gasspeichern, das Erpressungspotenzial von Pipelines, um schwere Waffen für die Ukraine, den Flüchtlingsstrom und die Aussicht auf den Winter, den wir gerade erleben. Das alles paarte sich mit einer Geldentwertung, wie sie Deutschland seit den 1940er Jahren nicht mehr erlebt hat. Die Bundesregierung mobilisierte Milliarden für die Rüstung und die Bewältigung der sozialen Folgen. Ein Doppelwumms. Ein grüner Wirtschaftsminister warf abgeschaltete Kohlekraftwerke wieder an, verlängerte gegen jede eigene Überzeugung die Laufzeit von Atomkraftwerken und kaufte Gas in Katar ein, dem Schreckbild jedes an Menschenrechten orientierten Politikers. Deutschland musste rasch eine neue, eine führende Rolle in Europa finden und einnehmen. Für eine neue Regierung wäre das schon in Friedenszeiten eine gewaltige Aufgabe gewesen. 2022 blieb keine Zeit. Der Krieg wirbelte die gewohnten heimischen Frontlinien durcheinander.

Die großen und zivilen Pläne der neuen Ampel-Koalition rückten in den Hintergrund. Das Land setzte sich ein neues Ziel: Möglichst heil durch diesen Krieg und diese Krise kommen. Dass sie uns alle ein Stück vom guten Leben und vom Wohlstand kosten werden, scheint sicher. Die deutsche Gesellschaft nimmt das vergleichsweise gelassen hin. Nur die Polarisierung ähnelt ein wenig jener der Pandemiejahre.

Am Ende gibt es aber keinen heißen Herbst, keinen Volksaufstand. Wie die Geschichte ausgeht, ist offen. Erst wenn der Krieg endet, ist vielleicht eine neue Normalität in Sicht. Sie wird nicht mehr jene sein, an die wir uns von 2019 oder 2021 erinnern. Das muss kein Schaden sein. Die Konfrontation mit existenziellen Fragen und Herausforderungen relativiert manche heftige, aber nutzlose Wohlstandsdebatte zurückliegender Jahre.

Wichtige Fragen, die nicht mit Krieg und Frieden zu tun hatten, oder nur am Rande, beschäftigten uns 2022 trotzdem weiter. Die katholische Kirche verstrickte sich immer tiefer in ihre hausgemachten Schwierigkeiten. Auch der Fußball tröstete uns nicht. Der Alltag war beschwerlich. Die Bahn rutschte in eine große Krise und schaffte es nur noch mit Mühe, den alltäglichen Betrieb am Laufen zu halten. Die Verkehrswende verspricht Besserung, aber wohl erst in ein paar Jahren. Bis dahin fährt das Land in überfüllten Nahverkehrszügen, denn das 9-Euro-Ticket lockte die Menschen auf die Schiene. Ein Nachfolge-Angebot ist beschlossen. Mangel kehrte in die Medizin zurück. Es fehlt an Medikamenten. Unterbrochene Lieferketten demonstrieren Europa die Abhängigkeit von asiatischen Produzenten. Material und Bauteile verknappten sich in einigen Feldern ganz deutlich. Die Globalisierung stößt an eine Grenze. Ob auch hier eine Zeitenwende heraufdämmert und Produktionen nach Europa zurückkehren? Wir wissen es noch nicht.

Der seit Jahren ignorierte demografische Wandel kommt langsam in der Wirtschaft an, der die Arbeitskräfte fehlen. Das betrifft Fachleute, aber auch Menschen für die einfachen Tätigkeiten bei Lieferung, Reinigung, Verkauf oder Service. Bäckereien machten dicht, Restaurants gar nicht mehr auf. Der Klimawandel ist inzwischen kaum mehr zu übersehen, denn schon wieder litt das Land unter einer schweren Dürre, Bäche versiegten, der Rhein verkümmerte zum Rinnsal, alte Bäume gingen ein und das Trinkwasser wurde regional knapp.

2022 war ein schwieriges Jahr. Was bleibt von ihm? Vielleicht die Erkenntnis, dass es nicht immer vorwärts- und aufwärts geht, dass nicht jede Krise spurlos verschwindet und die Folgen sich aus den Rücklagen zahlen lassen. Bei allen Schwierigkeiten bleibt aber auch in Erinnerung, wie es mit Deutschlands vielen Mitteln möglich war, den Ukrainern in Lebensgefahr zu helfen, mit Unterkunft, Transport, Spenden, in den Schulen. Tausende packten wieder mit an. Es gelang, Deutschland aus Kampfhandlungen herauszuhalten. Es gelang, die Energieversorgung zu stabilisieren, und die Demokratie erwies sich ein weiteres Mal als krisenfest und handlungsfähig. Sie entwickelt sich weiter, denn mit Schwarz-Grün in NRW und in Schleswig-Holstein etabliert sich eine neue Option für künftige Koalitionen. Die SPD legte endlich ihr Hartz-IV-Trauma ab. Mag sein, dass die Sozialdemokraten dadurch handlungsfähiger werden.

Was wünschen wir uns für das neue Jahr? Frieden für die Ukraine in jedem Fall, ein Ende der Gewalt und der Unterdrückung im Iran und in vielen anderen Ländern der Erde. Und ein ruhigeres Fahrwasser. Nach Jahren der Krise wäre Erholung eine schöne Perspektive. 2022 lehrt uns Demut. 2023 kann gerne besser werden.
Ihr Chefredakteur