Spätestens vier Wochen nach Kriegsbeginn erreichen der russische Einmarsch in die Ukraine und die Konfrontation beider Nationen auch Bonn. Mit Russland-Fahnen, lauter Musik, Hupkonzerten und Sprechchören fällt am letzten Märzsonntag ein Autokorso auf, der sich von Köln kommend durch die Bonner Innenstadt bewegt. Ziel: das sowjetische Ehrenmal auf dem neuen Friedhof in Duisdorf. Rund 400 Fahrzeuge - ihren Kennzeichen zufolge aus ganz Nordrhein-Westfalen angereist-haben sich laut Bonner Polizei für die angemeldete Demonstration aneinandergereiht.
Auf dem Friedhof legen die Teilnehmer Blumen am Ehrenmal nieder, es werden Reden in russischer Sprache gehalten. Nach ihren Beweggründen für die Teilnahme gefragt, nennen einige ihre Solidarität mit Russland, andere die Mahnung zum Frieden. Besorgt äußerten sich Teilnehmer zudem darüber, dass auch Kinder mit russischen Wurzeln in Deutschland angegangen würden, obwohl sie die Geschehnisse noch gar nicht einordnen könnten. Bis auf Wortgefechte mit Passanten, die die Teilnehmer mit dem Kriegsgeschehen konfrontieren, bleiben Zwischenfälle aus.
Ungeklärt bleibt die Frage, wer hinter dem Autokorso steckt. Zum Fahrzeugverband gehören auch rund 25 Motorräder; einige der Biker tragen Kutten mit Zeichen eines Rockerclubs, der den "Nachtwölfen" (Notschnyje Wolki) nahestehen soll, einer als nationalistisch und antiwestlich geltenden Gruppierung.
Die "Nachtwölfe“ kennen den Weg nach Bonn bereits, denn zwei Wochen zuvor hat eine rockerähnliche Abordnung von rund einem Dutzend Motorradfahrern mit ihren Symbolen demonstrativ vor dem russischen Generalkonsulat in Schweinheim Halt gemacht. Während das Landeskriminalamt die Gruppierung wegen Delikten wie Volksverhetzung, Sachbeschädigung, Erpressung und Raub auf dem Schirm hat, stellt die Bonner Polizei bei dem Auftritt in Schweinheim die Personalien der Teilnehmer fest-allerdings keine Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten.
Auch abseits von plakativen Aktionen bewegt die Invasion Bonner mit ukrainischen und russischen Wurzeln. Überregional zerschlägt der Krieg längst Porzellan. So kommt es zum pauschalen Ausschluss russischer und weißrussischer Sportler von internationalen Wettkämpfen und zu Absagen an russische Künstler durch Kultureinrichtungen. Als Retourkutsche setzt Russland einer Reihe internationaler Organisationen und allen deutschen parteinahen Stiftungen den Stuhl vor die Tür und beendet damit teils 30-jährige Kooperationen. In Bonn, wo der Besuch des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow im Sommer 1989 zu einem Meilenstein der deutschen Wiedervereinigung geworden war, kühlen die Beziehungen der Institutionen zu Russland auf den Gefrierpunkt herab. Auch die Uni Bonn setzt alle Kooperationen mit russischen Partnern aus.
Rund 60 000 russland-deutsche Spätaussiedler leben groben Schätzungen zufolge in Bonn und der Region. Einer von ihnen ist Vitaliy Krusch. 2005 kam der heute 33-Jährige aus der Ukraine ins Rheinland, studierte Wirtschaftsingenieurwesen und steht seit Jahren ehrenamtlich dem deutsch-russischen Jugendparlament Bonn-Kaliningrad“ vor- einem Freundeskreis, dem Russen wie Ukrainer angehören. Gegenüber dem General-Anzeiger warnt Krusch im Frühjahr vor Pauschalurteilen. Mit einer Befürchtung legt er sich jedoch fest: Das Band zwischen Deutschland und Russland sei langfristig zerschnitten.
Mit der von Russlands Präsident Wladimir Putin angeordneten Teilmobilmachung ändert sich Anfang September die Lage in Bonn erneut: Anfang November gelangen die ersten russischen Staatsbürger nach Bonn und in die Region, die sich dem Dienst an der Waffe entziehen. Um Konflikte zwischen Russen und Ukrainern zu vermeiden, bemühen sich die örtlichen Behörden um getrennte Unterbringung.
von Rüdiger Franz