Der Kreishandwerksmeister spricht im Interview mit Gerda Saxler-Schmidt über Chancen im Handwerk, den Unterstützungsbedarf für die Betriebe und eine neue Charme-Offensive

,,Das einzige Mittel gegen Fachkräftemangel ist auszubilden"

Kreishandwerksmeister Thomas Radermacher FOTO: ERIKSPILLES

Volle Auftragsbücher im Handwerk, aber keine Fachkräfte, die die Aufträge ausführen können - wie dramatisch ist die Situation?
Thomas Radermacher: Sehr, um es auf den Punkt zu bringen. Im Gesamthandwerk haben wir rund 400 000 qualifizierte Leute zu wenig. Und allein in den für die Energiewende entscheidenden Branchen sind es rund 190 000. 1,3 Millionen gehen im Handwerk in den Ruhestand, aber es kommen nur rund 700 000 nach. Das Delta wird dramatisch zunehmen. Ich werde nicht müde, der Politik zu sagen, dass wir dringend gegensteuern müssen. Und den Betrieben, die nicht ausbilden, halte ich entgegen: Das einzige Mittel gegen Fachkräftemangel ist selbst auszubilden.

Wie kann dieses Gegensteuern aussehen?
Radermacher: Jedenfalls nicht durch freitags protestieren. Denn kaum jemand von diesen jungen Leuten ist bereit, statt zu demonstrieren zu installieren. Und eines ist auch klar: Wenn wir die Fachkräftelücke nicht schleunigst schließen, fällt die Energiewende aus. Die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland wird uns auch nicht retten, kann aber sehr wohl Lücken füllen.

Sondern?
Radermacher: Tatsächlich muss man sagen, dass wir das Problem nicht kurzfristig in den Griff bekommen werden. Denn die Fachkräfte, die uns heute fehlen, haben wir mal ausgebildet, sind uns aber von anderen Branchen abgeworben worden, oder wir haben sie aus anderen Gründen nicht halten können. Wir brauchen Unterstützung durch den Staat. Zum Beispiel bei der Modernisierung unserer Berufskollegs. Und wir brauchen mehr und bessere Lehrer, denn auch bei den Lehrern an Berufskollegs haben wir 60 000 zu wenig. Und wir brauchen mehr Geld in der überbetrieblichen Ausbildung, wo besondere Fertigkeiten noch einmal vertieft werden. Diese überbetrieblichen Berufsbildungsstätten werden zwar meist von den Kreishandwerkerschaften und Handwerkskammern unterhalten. Aber auch da haben wir einen Renovierungsstau. Wer will da lernen, wo es durchs Dach regnet? Was wir aber nicht zuletzt brauchen ist auch eine Charmeoffensive des Handwerks.

Hat das Handwerk also ein Imageproblem?
Radermacher: Teilweise schon, in einigen Bevölkerungskreisen. Oft meinen ja Akademikerfamilien, dass es für ihre Kinder unbedingt ein Studium sein muss. In erster Linie müssen wir bei den jungen Leuten Überzeugungsarbeit leisten, aber auch bei den Eltern und in den Schulen. Wir als Handwerk müssen aber noch mehr raus in Schulen und unsere Berufe vorstellen. Denn das Wissen darüber ist etwas verschüttgegangen.

Die aktuelle Plakataktion ist bei der Charmeoffensive des Handwerks ein guter Ansatz. Mit diesen Kampagnenmotiven sind wir auf allen Kommunikationswegen aktiv.

Einer dieser Slogans heißt: „Wieso soll Karriere nur mit Studium gehen? Dabei suchen 200 000 Betriebe in den nächsten zehn Jahren Führungsnachwuchs.“ Wie unterstützen die Kammern interessierte junge Leute und Unternehmen?
Radermacher: Es gibt landesweit in NRW 71 sogenannte Startercenter in Trägerschaft von Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern und kommunalen Wirtschaftsförderungen. Eines davon gibt es in Köln. Diese Startercenter unterstützen Existenzgründerinnen und Existenzgründer in allen Fragen rund um die Selbstständigkeit.

"Als Geselle und als Meister kann man heute mindestens genauso gut verdienen wie in manchen akademischen Berufen"

Natürlich braucht es viel Arbeit, Zeit und Herzblut, sich selbstständig zu machen und einen Betrieb zu führen. Aber aufgrund der guten Rahmenbedingungen bei Betriebsübernahmen und guter Konjunktur sind die Erfolgsaussichten sehr gut. Und als Geselle und als Meister kann man heute mindestens genauso gut verdienen wie in manchen akademischen Berufen.

Wenn ein Geselle, der gerade aus der Ausbildung zum Elektriker kommt, nach Tarif mit einem Stundenlohn von 15,24 Euro beziehungsweise 2500 Euro brutto beginnt – ist das ein attraktives Lohnniveau?
Radermacher: Kein Mensch bezahlt heute noch nach Tarif. Die Löhne liegen deutlich höher. Und wenn das so weitergeht mit dem Fachkräftemangel, dann muss noch besser bezahlt werden. Wenn wir auf die Handwerksmeister schauen, liegen die Gehälter deutlich höher, im Schnitt über 3500 Euro und mehr im Monat. Aber auch dafür muss man natürlich arbeiten.

Wie sieht es denn mit dem Anteil von Frauen in den Handwerksberufen aus? Muss das Handwerk für Frauen attraktiver werden als weiterer Lösungsansatz?
Radermacher: In einigen Handwerksberufen sind Frauen schon in der Mehrzahl, bei den Friseuren zum Beispiel. Aber in den klassischen Bauberufen ist das nicht der Fall. Auch daran müssen wir arbeiten. Aber es ist natürlich teils schwierig wegen der körperlichen Anforderungen. Aber: Wir müssen den Betrieben Mittel und Wege zeigen, wie sie Frauen entlasten können.

Wie zum Beispiel?
Radermacher: Befreiung der Frauen von körperlichen Belastungen und Abstimmung der Tätigkeit auf die Möglichkeiten. Das ist natürlich in kleineren Betrieben schwieriger als in größeren. Es ist ein dickes Brett, aber es tut sich was. Im Malerhandwerk haben wir zum Beispiel schon sehr viele Frauen, bei den Tischlern schon etwa 20 Prozent.

Wie blicken Sie angesichts der Energiekrise auf die Zukunft des Handwerks?
Radermacher: Die Energiekrise macht uns große Sorgen. Sehr viele Handwerksbranchen sind energieabhängig, gerade im produzierenden Handwerk. Zum Beispiel die Bäcker brauchen sehr viel Energie und auch die Textilreiniger, die für die Krankenhäuser und Altenheime die Wäsche waschen. Wenn die Textilreiniger demnächst keine Energie mehr haben, bekommen folglich die Krankenhäuser Hygieneprobleme. Für alle anderen Branchen bedeutet teurere Energie erhöhte Preise. Zusätzlich zur Energiekrise verschärft die Materialknappheit die Lage. Einen solchen systemischen Engpass haben wir in den letzten 70 Jahren nicht gekannt. Große Sorgen bereitet uns auch der soziale Sprengstoff, der in beidem steckt. Die Regierung muss dringend handeln, um die erhöhten Preise zu kompensieren.

Aber noch einmal zurück zur Ausbildung: Ein Silberstreif sind die aktuellen Zahlen zu den Ausbildungsverträgen. Bei uns im Kammerbezirk haben wir bereits 17,5 Prozent mehr abgeschlossene Ausbildungsverträge als im Vorjahr. Es gibt aber immer noch jede Menge freie Lehrstellen. Also wer jetzt noch nichts hat, sollte sich unbedingt noch bewerben.

ZUR PERSON

Thomas Radermacher (61) führt den von seinem Großvater Johann 1949 in Bonn gegründeten Betrieb seit 1991 in der Nachfolge seines Vaters Rudolf. Eigentlich hatte er nach seinem Abitur im Jahr 1981 Sportjournalist werden wollen. Doch dann entschied er sich für eine Lehre im Familienbetrieb, der 1989 seine Meisterprüfung folgte. Seit 1996 ist er öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger sowie seit 2007 Kreishandwerksmeister. Er ist stellvertretender Landesinnungsmeister NRW, seit 30. November 2018 Präsident des Bundesverbands des Deutschen Tischler-Handwerks, Mitglied des Präsidiums des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und vertritt die Interessen des Handwerks der Region im Vorstand der Handwerkskammer zu Köln. sax