Schlafstörungen, wenig soziale Kontakte, Apathie: die Symptome psychischer Erkrankung sind vielfältig. Die Zahlen alarmierend. Denn jedes Jahr zeigen in Deutschland 17,8 Millionen und damit um die 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung eine psychische Erkrankung. Laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (dgppn) zählen zu den häufigsten Erkrankungen Angststörungen, (15,4 Prozent) gefolgt von affektiven Störungen wie Depressionen (9.8 Prozent) und Störungen durch Alkohol und Medikamentenkonsum (5,7 Prozent). 33 Prozent der Menschen leiden im Laufe eines Lebens an einer seelischen Erkrankung.
Das gilt auch für Bonn und die Region, in der ein Drittel der 900.000 Menschen irgendwann an einer psychischen Krankheit leiden. Durch internationale Krisen wie Corona und den Ukraine-Krieg oder regionale Katastrophen wie das Hochwasser an der Ahr ist die Anzahl seelisch Erkrankter noch einmal angestiegen.
Eine Entwicklung, die auch die Stiftung Gemeindepsychiatrie Bonn-Rhein-Sieg registriert hat. Sie bietet den Betroffenen und ihren Angehörigen auf vielfältige Weise Hilfen und Beratung. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf Aufklärungsarbeit zur Entstigmatisierung psychisch erkrankter Menschen und deren gesellschaftliche Teilhabe in allen Lebensbereichen gerichtet. Was 1981 als Bonner Verein für gemeindenahe Psychiatrie entstand, umfasst heute nach über 40 Jahren insgesamt fünf Gesellschaften, die sich um die Nachsorge psychisch kranker Menschen zwischen 18 Jahren und dem Rentenalter kümmern.
Zu diesem Zweck betreibt die Stiftung vier spezialisierte Tochtergesellschaften mit einer breiten Palette an Angeboten. Dazu gehören beispielsweise Wohnheime in verschiedenen Stadtteilen, ein Fachdienst zur Beratung im Bereich Arbeit, Werkstätten, Fachdienste, Beratungszentren sowie Deutschlands erstes inklusives Better-Burger-Restaurant “Godesburger“ in Bad Godesberg.
Insgesamt betreut die Stiftung in Bonn und der Region rund 2000 psychisch erkrankte Männer und Frauen, davon über 500 im Geschäftsfeld der GVP Bonn-Rhein-Sieg. Dort erhalten psychisch erkrankte Menschen berufliche Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben. Im Eingangsverfahren werden berufliche Qualifikation, Arbeitsfertigkeiten und individuelle Zielsetzungen abgefragt. Danach erfolgt im Berufsbildungsbereich nach Wunsch des Einzelnen eine zweijährige theoretische und praktische Qualifizierung. Dabei kann der Klient zwischen den vier Arbeitsbereichen Büro und Logistik, Lager und Logistik, Montage und Verpackung sowie Gastronomie und Service wählen. Die Finanzierung erfolgt über die Agentur für Arbeit oder den jeweiligen Rentenversicherungsträger. Hieran schließt sich der vom Landschaftsverband Rheinland finanzierte Arbeitsbereich an.
Neben einer beruflichen Teilhabe in den Gewerken und in der hausinternen Werkstatt erhalten Beschäftigte darüber hinaus auch die Möglichkeit über Betriebsintegrierte Bildungs- und Arbeitsplätze berufliche Erfahrungen in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes zu sammeln. Wer sich nach den zwei Jahren entscheidet, bei der GVP zu bleiben, der kann seinen Einsatzort aus einer der 18 Fachabteilungen, zu denen unter anderem Versand, EDV und Hauswirtschaft gehören, auswählen. Während der gesamten Zeit steht der soziale Dienst den Klienten beratend und unterstützend zur Seite. Rund 70 Klienten haben sich aktuell entschieden, auf betriebsintegrierten Arbeitsplätzen des ersten Arbeitsmarktes aus ganz unterschiedlichen Branchen zu arbeiten. Das bietet gleichzeitig die Möglichkeit für den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt.
Zu diesem Zweck unterhält die GVP ein Netzwerk mit mehr als 100 Arbeitgebern in Bonn und der Region, die geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Psychisch erkrankte Personen, die keine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt finden oder sie nach kurzer Zeit krankheitsbedingt wieder aufgeben müssen, können sich an die Prima Bonn-Rhein-Sieg GmbH wenden. Zu ihr gehört auch eine niederschwellige Werkstatt, in der sich Klienten ohne Eingangsvoraussetzung über einen längeren Zeitraum selber erproben und Fertigkeiten fürs Arbeitsleben trainieren können. Ziel ist es, dass sie sich verlässlich auf einen Arbeitsprozess und die damit verbundenen Strukturen einlassen können.
Das Ergebnis aller Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben ist im Leuchtturmprojekt des Unternehmensverbundes „Godesburger“ zu sehen. „Um Unternehmen Blickwinkel zum Thema Beschäftigung von Menschen mit Behinderung zu öffnen, gehe ich mit denen, die der Inklusion in ihrem Betrieb skeptisch gegenüberstehen, dorthin. Da sehen sie, dass dieser Inklusionsbetrieb funktioniert“, erläutert Vorstand Wolfgang Pütz. Der 58-jährige kritisiert denn auch, dass Inklusion in der Gesellschaft noch nicht selbstverständlich ist. Besonders psychisch erkrankte Menschen würden immer noch häufig stigmatisiert. In der Gesellschaft herrschten noch jede Menge Vorurteile. „Sie sind zwar weniger geworden, aber da ist noch viel Luft nach oben. Was häufig in den Medien rüberkommt, ist eine Verengung der Wahrnehmung“, macht Pütz deutlich. Umso bedeutsamer sind für ihn daher auch die niederschwelligen Angebote des Unternehmerverbundes.
Die Sorge, dass die öffentlichen Haushalte oder Renten- beziehungsweise Krankenversicherung sowie die Bundesagentur für Arbeit, die die vielen Maßnahmen bezahlen, in den nächsten Jahren kein Geld mehr für notwendige Hilfsprojekte aufbringen könnten, veranlasste den Verein 2018 die Stiftung zu errichten, um dadurch Spendenakquirieren zu können. Um den Bekanntheitsgrad der Stiftung zu vergrößern und damit eine größere private Unterstützung zu erhalten, stellten sich 14 prominente Bürger aus Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis als Botschafter an die Seite der Stiftung. „Auf diese Weise hoffen wir, Maßnahmen fortführen zu können, die sonst vielleicht keine langfristige Zukunft haben würden“, erklärt Pütz. „Wir müssen erst einmal das erhalten, was wir in den vergangenen 40 Jahren aufgebaut haben. Und das ist viel. Wir haben moderne und bedarfsorientierte Angebote, die hochwirksam sind und viele Menschen erreichen. Zusätzlich sind neue Bedarfslagen inhaltlich und quantitativ entstanden. Vor allem wollen wir den psychisch kranken Menschen Zukunftsperspektiven erhalten“, skizziert Pütz die Herausforderungen für die zukünftige Arbeit des Unternehmerverbunds. VON SUSANNE TRÄUPMANN