Waldorfschulen wollen beforscht werden - Die Waldorfpädagogik betrachtet individuelle Bedürfnisse, Entwicklungsaspekte und Neigungen

Professor Dr. Jost Schieren, Dekan des Fachbereiches Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule: Freude am Lernen

Professor Dr. Jost Schieren FOTO: LAURA BRÜGGEN

INTERVIEW JOST SCHIEREN

Die Waldorfpädagogik wurde von Rudolf Steiner vor etwas mehr als 100 Jahren in Stuttgart begründet. Was ist eigentlich Waldorfpädagogik und wie verbreitet ist sie?

Jost Schieren: Nach dem Ersten Weltkrieg, zur Zeit der Weimarer Republik, setzte eine große Erneuerungswelle ein, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasste und mit der Reformpädagogik auch neue pädagogische Ideen hervorbrachte. Die Waldorfpädagogik ist eine Variante der Reformpädagogik. Sie hat sich zu einer international breit vertretenen Alternativpädagogik entwickelt. Inzwischen gibt es weltweit nahezu 1.200 Waldorfschulen und 2.000 Waldorfkindergärten. In Deutschland existieren derzeit 253 Schulen und 560 Kindergärten. Die Waldorfbewegung ist in ihrem Wachstum - auch international - hochdynamisch.

Womit hängt dies zusammen?

Schieren: Viele Eltern suchen nach einer Alternative zum Regelschulsystem, das insbesondere in Deutschland nach der G8/G9-Diskussion damit in Verbindung gebracht wird, dass das Lernen oft sehr stressbehaftet ist. Dies wird von Eltern, Lehrer:innen und Schüler:innen gleichermaßen beklagt. Mit der Waldorfpädagogik wird demgegenüber eine Pädagogik verbunden, die Kinder und Jugendliche nicht bloß als „Lernmaschinen", sondern als individuelle Persönlichkeiten anspricht und auf ihre Bedürfnisse, auf Entwicklungsaspekte und auf individuelle Neigungen und Begabungen stärker eingeht.

Bleibt die Leistung manchmal auf der Strecke?

Schieren: Das war lange Zeit der Ruf der Waldorfschulen, dass sie zwar Spaß am Lernen, aber nicht unbedingt Erfolg beim Lernen vermitteln. In vielen empirischen Studien, die unter anderem von Kolleg:innen der Alanus Hochschule vorgelegt worden sind, konnte aber gezeigt werden, dass Waldorfschulen, was den Lernerfolg angeht, ohne Weiteres mithalten können. Nach Einführung des Zentralabiturs ist es quasi amtlich, dass Waldorfschulen mit Bezug auf das Leistungsvermögen der Schüler:innen nicht hinterherhinken.

Was sind die Kernelemente der Waldorfpädagogik?

Schieren: Ein bekannter Waldorf-Slogan lautet: Schule ohne Noten. Dahinter verbirgt sich der Verzicht auf ein System der Leistungsselektion. An Waldorfschulen werden Schülerinnen in leistungsheterogenen Gruppen unterrichtet. Dabei geht es um eine ganzheitliche Erziehung, die nicht nur intellektuell-kognitive Aspekte, sondern auch emotional-soziale und handwerklich praktische Kompetenzen umfasst. Daher spielt die ästhetisch-künstlerische Bildung eine so große Rolle an der Waldorfschule. Die Schüler:innen sollen in ihrer individuellen Begabung und Fähigkeit optimal gefördert werden. Nicht die abstrakte Wissensvermittlung steht im Vordergrund, sondern dass die Kinder und Jugendlichen alles, was sie lernen, auch individuell erfahren und möglichst auch praktisch umsetzen können. Die individuelle Verbindung mit den Lerninhalten ist wichtig.

Am Fachbereich Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule wird der Dialog zwischen Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft gesucht. Was heißt das genau?

Schieren: Ich halte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik für unerlässlich. Lange Zeit war die Waldorfpädagogik eine reine pädagogische Praxis und es gab kaum eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Heute gilt die Waldorfschule als eine der Schulformen der bestbeforschten Reformpädagogik. Seit etwa zwanzig Jahren hat sich die Situation also sehr verändert. Und auch die Waldorflehrer:innenbildung ist inzwischen auf einem sehr hohen Niveau. Seit 2007 gibt es beispielsweise den Masterstudiengang Waldorfpädagogik in Alfter.

Die Anthroposophie und die Waldorfpädagogik stehen immer wieder in Kritik. Was bedeutet das für die Alanus Hochschule?

Schieren: Wir sind glücklicherweise davon verschont, was vermutlich damit zusammenhängt, dass wir nicht schwurbeln, wenn ich das mal so nennen darf, sondern einen wissenschafts- und forschungsbasierten Waldorfpädagogik- und Anthroposophiediskurs unternehmen. Nur auf Basis einer wissenschaftlichen Forschung entwickelt sich die Waldorfpädagogik auch zeitgemäß weiter.

Wie passt Lehrer:innenbildung an eine Kunsthochschule?

Schieren: Die Lehrer:innenbildung ist in Nordrhein-Westfalen an Kunsthochschulen möglich, das gilt bei uns für das Fach Kunst im Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen und für die Ausbildung von Waldorflehrer:innen. Und durch die Verleihung des Promotionsrechtes für Dr. phil. und Dr.paed. seitens des Wissenschaftsministeriums können wir eine ausgezeichnete Grundlage für eine solide Forschung schaffen.


Professor Dr. Jost Schieren ist Dekan des Fachbereiches Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule

Die Fragen stellte Laura Brüggen