Über die Krisenkompetenz von philosophischer und künstlerischer Bildung

Martin Booms, Professor für Philosophie am Institut für philosophische und ästhetische Bildung der Alanus Hochschule: Orientierung in Zeiten der Krise

Professor Martin Booms FOTO: BENJAMIN WESTHOFF

VON MARTIN BOOMS

Der Zustand der Krise scheint mittlerweile allgegenwärtig, wie das Schicksal unserer Zeit: Corona, Krieg, Klima - was kommt als nächstes? Die Herausforderungen, die sich in diesem Krisenkontext stellen, liegen dabei auf zwei verschiedenen Ebenen. Zum einen gibt es ganz konkrete, benennbare Probleme, die mit entsprechend klaren Maßnahmen angegangen werden können: etwa die Eindämmung von Infektionsraten in der Corona-Krise oder die Deckelung von Energiekosten im aktuellen Kontext des Kriegsgeschehens etc. Angesichts dieser Problemdimension der Krise sind Politik und ,,das Tun" gefragt. Zum anderen stellt sich noch eine weitere Herausforderung, die ganzheitlicher, zugleich aber diffuser und ungreifbarer ist - und der deshalb nicht unmittelbar mit instrumentellen Maßnahmen begegnet werden kann. Gemeint ist eine Art Hintergrunderschütterung, eine Eintrübung des Erwartungshorizonts, das verunsichernde Grundgefühl, dass der Boden unter unseren Füßen schwankt und sich womöglich auch nicht wieder in gewohnter Form verfestigen wird. Diese Dimension der Krise ist im Kern eine tiefreichende Vertrauenskrise, die unter dem Radar schon lange vor den genannten aktuellen Krisengeschehnissen eingesetzt hat: ein Misstrauen in die alte aufklärerische Erzählung, dass die Zukunft mehr Verheißung als Zumutung ist. Gegen diese Horizont dimension der Krise helfen keine Verordnungen und Maßnahmen. Hier sind vielmehr Kunst und Denken gefragt. Und das aus zwei Gründen: zum einen, weil Philosophie und Kunst sich immer schon in ein kritisches, also im Wortsinn: krisenbezogenes Verhältnis zu den nur scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Normalitäten der Wirklichkeit gestellt haben. Und anderen zum haben beide die analytische, kreative und narrative Kompetenz, alternative Weltverständnisse aufzuschließen: sozusagen die Geschichte von dem, was der Fall ist und sein sollte, anders und neu zu erzählen. Genau diese Fähigkeit ist aber das Kernstück für das, was in unserer Zeit dringlichst gebraucht wird: ganzheitliche, nicht nur instrumentelle Krisenkompetenz.

Die Philosophie im Besonderen kann in diesem Zusammenhang erläutern, dass Krise eben nicht - gemäß einem weitverbreiteten Missverständnis - gleich Katastrophe ist. Die Krise ist ein Schwebezustand, in dem das bislang Vertraute erschüttert, aber das Kommende noch ungewiss ist: ein Zustand, der den Mut zur niemals ganz sicheren Entscheidung und zu einem immer vom Scheitern bedrohten Neuentwerfen erfordert. Die konkrete Krise bringt nur fokussiert zum Bewusstsein, was im Kern der conditio humana im Allgemeinen entspricht: dass der Mensch als das ,, nicht-festgestellte", das ,,riskierte" Wesen, wie es der große Anthropologe Arnold Gehlen einmal formuliert hat, im Grunde immer auf schwankendem Boden steht. Der Mensch ist selbst im wohlverstandenen Sinn krisenhaft, weil er sich und seine Welt immer erst schaffen muss im Handeln und Gestalten: beides steht aber unter der Bedingung einer irreduziblen Unsicherheit.

„Krise" in diesem Sinne lässt sich daher niemals ausschalten, sondern nur ausgestalten - und ebenso kann man die krisentypische Verunsicherung niemals ganz loswerden, wohl aber lernen, sie anzunehmen und mit ihr umzugehen. Die vermeintlich vollständige Sicherheit ist nur um den Preis eines salto mortale zu haben: einer Flucht in die verfestigte, verabsolutierte Welt- und Selbstauslegung, die um jeden Preis gegen die anderen verteidigt wird, ,,die es immer noch nicht verstanden haben" - ein Muster, das sich in den vergangenen Krisenjahren immer stärker und bedrohlicher in der Gesellschaft ausgeprägt hat. Krisenkompetenz heißt auch, dieser Versuchung des verabsolutierten, totalen - und letztlich totalitären - Standpunkts zu widerstehen. ,,Krise" braucht gerade umgekehrt Interpretations- und Gestaltungsoffenheit, Toleranz, ein Zulassen von Multiperspektivität und Diskurs. Aber es droht auch eine andere, entgegengesetzte Absturzstelle: das Untergehen im Strudel der Orientierungslosigkeit, der endgültige Verlust eines Kompasses, von dem man noch nicht einmal mehr weiß, worin dieser überhaupt bestehen solle. Beides: die totalitäre Verfestigung und die totale Bodenlosigkeit, bedrohen, was in der Krise am unerlässlichsten ist: die Fähigkeit und Bereitschaft zu einem freien Gestalten und Neuausrichten.

Der Schlüssel, um das krisenfehlgetriebene Abstürzen in beide Abgründe zu vermeiden, liegt in der Bildung. Und zwar in einem Verständnis von Bildung, in dem Philosophie, Kunst und Literatur eine bedeutende Rolle innehaben und das man früher einmal humanistisch genannt hat, bevor es zugunsten eines mehr qualifikatorischen Bildungskonzeptes vorschnell zum alten Eisen geworfen wurde. Menschen zu befähigen, aus sich selbst heraus eine Haltung zu entwickeln und einen inneren Stand zu gewinnen, war auch eine Leitidee der Aufklärung - und diese Idee ist in unserem Zeitalter der Krisen aktueller denn je. Der Mut, selbst zu denken und die Kreativität, neue Wege zu gestalten, liegen im Zentrum dessen, was wir heute brauchen: ,,kritische" Kompetenzen in Zeiten der Krise. Wer den Ansatz solchen philosophischen und künstlerischen Bildung immer noch für einen alten, weltfremden Zopf hält, mag sich gerade einmal in eben dieser Welt genauer umschauen. Oder er klopft doch lieber gleich bei uns an.

Martin Booms ist Professor für Philosophie am Institut für philosophische und ästhetische Bildung der Alanus Hochschule.