Annette Weißkircher hat 1973 die Gründung und den Aufbau der freien Kunststudienstätte „Alanus Hochschule der Musischen und Bildenden Künste" miterlebt, ab 1974 als eine der ersten Eurythmiestudierenden. 2003 wurde die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft staatlich anerkannt, wissenschaftliche Fachbereiche kamen hinzu. Seit 2008 ist Annette Weißkircher Professorin für Eurythmietherapie. Tatjana Fuchs sprach mit ihr über Kunstverständnis, gesellschaftliche Wirksamkeit, Mensch und Natur.
Sie begleiten die Alanus Hochschule von Beginn an. Was war in Ihrer Erinnerung der Impuls, der die Gründerinnen, Gründer und ersten Studierenden verband?
Annette Weißkircher: Der Wunsch nach einer Hochschule, in der alle Künste unter einem Dach gelehrt und studiert werden. Wir wollten etwas Neues schaffen - auch im Zeichen eines der zentralen Anliegen der Studentenbewegung der 1960er-Jahre. ,,Unter den Talaren - Muff von 1.000 Jahren" - das wollten wir nicht mehr.
Wer brachte den Stein unter anderen ins Rollen?
Weißkircher: Der Architekt, Bildhauer, Maler und Cellist Wilfried Ogilvie. Er wollte mit Kunst zur allgemeinen Menschenbildung beitragen: Die Kunst sollte wichtige und bleibende Impulse geben, sei es durch Ton, Farbe oder Form. Darüber hinaus gehören laut Ogilvie alle Künste zusammen und befruchten sich gegenseitig. Nach der jeweiligen Vertiefung in die spezifischen Qualitäten der Einzelkunst soll sich das ,,Gespräch der Künste" entwickeln - wir bezeichnen dies heute als Interdisziplinarität.
Welche Impulse wollte die Hochschule geben?
Weißkircher: Das Ziel der jungen Alanus Hochschule war es, eine ,,soziale Kraft" der Kunst zu entwickeln. Das wurde zur Anfangszeit als die 7. Kunst bezeichnet, neben Architektur, Bildhauerei, Malerei, Sprachgestaltung (Rezitation), Eurythmie und Musik. Die Kernfrage dieser 7. Kunst war die, wie alle Menschen gemeinsam sozial kompetent werden können, so dass das Leben menschengemäß und nachhaltig ist. Diese Sozialkompetenz sollte sich in den Kunstwerken und sozialen Projekten der Alanus Hochschule zeigen.
Was tat Ogilvie, um seine Idee zu verwirklichen?
Weißkircher: Er zog vier Jahre durchs Land und scharte junge, dynamische Künstler und Künstlerinnen um sich. Sie fanden sich im September 1973 in Alfter am Johannishof zur Studieneröffnung ein. Es begann eine Zeit des gemeinsamen Lebens, Arbeitens und Kunstschaffens.
Darüber hinaus überzeugte Ogilvie den Mediziner und Waldorfpädagogen Günther Schönemann - meinen Vater-davon, das Vorhaben zu unterstützen.
In welcher Beziehung standen Schönemann und Ogilvie zur Anthroposophie?
Weißkircher: Schönemann und Ogilvie holten ihre Inspirationen aus der Anthroposophie. Ziel war es, die Anthroposophie nicht nur theoretisch zu erarbeiten, integrieren, sondern ins Leben zu um positive Impulse im Leben und der Gesellschaft zu erzielen. Ogilvie war sehr von Rudolf Steiner inspiriert, als Architekt entwarf er im anthroposophischen Baustil und entwickelte diesen weiter.
Neben Steiner hat auch der Namensgeber der Hochschule, der Universalgelehrte Alanus ab Insulis, die Gründerinnen und Gründer inspiriert. Inwiefern?
Weißkircher: In seinem Hauptwerk „Die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen" aus dem 12. Jahrhundert findet sich eine allegorische Darstellung von der Erschaffung des „Neuen Menschen". Alanus beschreibt, wie die Natur erlebt, dass ihr höchstes Werk - der Mensch-, sich selbst zerstört und seinen Ursprung missachtet. Alle Welt - die Elemente, Pflanzen und Tiere, der gestirnte Himmel" - folgen den Gesetzen der Natur, nur der Mensch versucht, die Geschenke der Natur zu entstellen und zu verderben, das Natürliche zu denaturieren. Das erscheint heute und auch zur Zeit der Gründung der Hochschule erstaunlich aktuell.
Was bewirkt der „Neue Mensch" nach Alanus in der Gesellschaft?
Weißkircher: Auf der Erde muss der Mensch sich bewähren. Er besiegt das Böse und besteht alle Gefahren mithilfe seiner Schöpferkräfte, den Sinnen und den sieben Künsten. In der Gründungsphase der Hochschule fanden wir in Alanus' Allegorie den Gedanken von der sozialen Kraft durch das Zusammenwirken der Künste wieder - dieses führt zu einer zukunftsfähigen Gestaltung der Gesellschaft durch den Menschen, im Einklang mit der Natur.
Wie können wir die Brücke von den Sieben Freien Künsten bei Alanus ab Insulis zu den musisch-bildenden Künsten an der frühen Alanus Hochschule schlagen?
Weißkircher: Für Alanus und die Menschen des Mittelalters waren die sieben freien Künste keine geschlossenen Disziplinen. Sie beinhalteten vielmehr alles, was den Menschen zum Menschen macht.
Sie verbanden Wissenschaft mit Kunst und waren Ausdruck geistiglebendiger Kräfte. Das Studium der sieben freien Künste bedeutete, dass der Studierende die Bildung erhielt, die den ganzen, den höheren und freien Menschen schulte. Daran knüpft der Gründungsimpuls der Alanus Hochschule an.
Mit welchen Mitteln sollten die Studierenden geschult werden?
Weißkircher: Durch das schöpferische Tun entdecken die Künstlerin und der Künstler die Fähigkeiten, die in ihnen stecken. Sie sehen, dass sie ihren kreativen Willen erweitern, verwandeln und erhöhen können. Sie erkennen, dass Kunst einen Auftrag hat.
Wie zeigte sich im Studienalltag der frühen Alanus Hochschule die Gemeinschaft der Künste?
Weißkircher: Unter anderem wurden je am Ende eines Semesters die Ausstellungen und Vorführungen von allen Disziplinen gemeinsam gestaltet. Jeder Studierende hat bei den anderen Künsten zugeschaut, dort mitgelitten, sich mitgefreut und neue Impulse bekommen.
Welche Rolle spielten Ogilvie und Schönemann nach der Gründung der Hochschule?
Weißkircher: Ogilvie baute vor allem den Fachbereich Malerei auf. Außerdem unterrichtete er im Aufbaustudium der Fachbereiche Bildhauerei und Architektur. Schönemann hat bis in seine Siebziger einmal wöchentlich für alle Studierenden Anthropologie-Unterricht gegeben. Und natürlich nahmen Ogilvie und Schönemann, die auch im Vorstand der Hochschule tätig waren, an den Freitagsgesprächen teil, die wöchentlich in der Gruppe aller Studierenden, Dozentinnen und Dozenten stattfanden. Später war Schönemann an der Gründung der ersten anthroposophischen Kunsttherapieausbildung an der Hochschule beteiligt und übernahm deren Leitung.
Welches Vermächtnis haben die Gründer uns hinterlassen?
Weißkircher: Den Anspruch, an der verantwortlichen Weiterentwicklung der Gesellschaft mitzuarbeiten und die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft in die Hand zu nehmen. Grundlage dafür ist die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, die durch die Kraft der freien Kunst ermöglicht wird.