Der ukrainische Präsident kämpft an vielen Fronten: Gegen die Russen, gegen die Kriegsmüdigkeit, gegen das Vergessen

Selenskyjs Jahr der Entscheidung

Markenzeichen Oliv-Parka: Selenskyj und US-Präsident Biden FOTO: DPA

Für den von fast zwei Kriegsjahren gezeichneten ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dürfte 2024 das Schicksalsjahr werden. Zwar kann der 45-Jährige trotz Russlands Invasion stolz auf den Status des Landes als EU-Beitrittskandidat verweisen. Aber der versprochene Sieg über Moskaus Invasion ist nicht in Sicht. Die Gegenoffensive der Streitkräfte zur Befreiung der von Russland besetzten Gebiete gilt als gescheitert. Von einem Stellungskrieg, einem Patt, ist zu Beginn des zweiten Kriegswinters die Rede. Und auch die Solidarität im Westen bröckelt.

Russland kontrolliert weiter rund ein Fünftel des Staatsgebiets der Ukraine. Zehntausende Menschen sind getötet worden. Damit wächst der Druck auf Selenskyj im Land und international, Ergebnisse zu liefern. Doch Selenskyj gibt sich kämpferisch. Die Ukraine wird ihre Stärke und ihre Freiheit nicht verlieren“, betonte er erst Ende November wieder. Der Präsident warnt vor Kriegsmüdigkeit oder einem Einfrieren des Konflikts, weil dies nur Russland helfe, militärisch wieder stärker zu werden. Vor allem aber ist Selenskyj trotz zunehmender Rufe nach Verhandlungen weiter fest entschlossen, den Konflikt auf dem Schlachtfeld zu entscheiden. Er will Russland möglichst eine strategische Niederlage zufügen, das Land so schwächen, damit es niemals wieder eine solche Aggression lostreten könne. „Russlands Niederlage bedeutet Sicherheit für Europa“, sagte er.

Für einen Sieg sind Selenskyj und die Ukraine auf internationale Hilfe angewiesen. Und die schwindet - auch wegen des Gazakrieges, der viel Aufmerksamkeit abzieht. Die US-Präsidentschaftswahl 2024 legt sich bereits jetzt wie ein Schatten über die Unterstützung im Krieg. Anhänger des erneut ins Amt strebenden Ex-Präsidenten Donald Trump unter den Republikanern blockieren neue finanzielle und militärische Hilfspakete. Die Europäische Union soll einspringen, kann aber die USA bisher weder bei der Munitionslieferung noch beim Geld ersetzen.

Dem Präsidenten bereitet das Sorgen. Hinzu kommen Probleme im eigenen Land, etwa beim Kampf gegen die Korruption, bei der Gewährleistung der Energiesicherheit im Winter und bei der Mobilisierung von Soldaten für den Krieg. Seit langem fordern die Kommandeure mehr Personal an der Front, um die westlichen Waffen zu bedienen.

Noch vor einem Jahr kürte das US-Magazin Time Selenskyj zur „Person des Jahres“. Inzwischen bescheinigen ihm Weggefährten Selbstherrlichkeit, Beratungsresistenz, einen zunehmend autoritären Stil. In der Ukraine entstehe keineswegs eine „offene liberale Gesellschaft nach amerikanischem Vorbild“, sagt der Ex-Berater im Präsidentenbüro, Olexij Arestowytsch. Vielmehr ähnele sie einem mit US-Waffen vollgepumpten „ultranationalistischen Staat“.

Viel Beachtung fand im Herbst im politischen Kiew besonders die Time Titelgeschichte „Der einsame Kampf von Wolodymyr Selenskyj“. Die Recherche legte den wachsenden Unmut über den Präsidenten in dessen Umfeld offen – und bescheinigte dem früheren Schauspieler Realitätsverlust, das Leben in einer Scheinwelt. Selenskyj fühle sich verraten vom Westen, der nicht genug Waffen gebe, um den Krieg zu gewinnen; er gebe nur so viel, damit das Land überlebe, hieß es.

Über Kritik am Staatschef ist in Kiews Medien nur wenig zu vernehmen, sie demonstrieren Geschlossenheit und fügen sich der Kriegszensur. Dabei sind die Klagen über den Staatschef längst im Alltag zu hören. Viele Ukrainer kritisieren bis heute, Selenskyj habe die Gefahr eines Krieges vor Beginn des russischen Angriffs am 24. Februar 2022 heruntergespielt und auch schon vorher nichts für ein starkes Militär getan. Er habe die Menschen trotz US-Warnungen vor Moskaus Invasion ins offene Messer laufen lassen. Andere sind enttäuscht, weil Selenskyj bei seinem Amtsantritt 2019 Frieden versprochen hatte.

Vor dem zweiten Jahrestag des Kriegs, den Russlands Präsident Wladimir Putin losgetreten hatte, besteht Selenskyj weiter auf die Umsetzung seiner „Friedensformel“. Ihr Kern ist die Forderung nach einem kompletten russischen Truppenabzug aus der Ukraine. Moskau lehnt dies als „unrealistisch“ ab, weil ein Rückzug als Kapitulation Putins angesehen würde. Auch deshalb stellen sich Kiew und Moskau auf eine Fortsetzung der Kampfhandlungen in 2024 ein.

Während Putin seine Kriegswirtschaft auf Hochtouren laufen lässt, auf Hunderttausende Freiwillige setzt, gilt die Ukraine ohne ausländische Hilfe nicht mehr als überlebensfähig. Für seinen Kampf setzt Selenskyj, der als glänzender Redner gilt und die westlichen Verbündeten mit seiner Emotionalität oft mitreißt, auch auf die Kraft des Wortes. „Wenn es keinen Sieg gibt,dann wird es kein Land geben“, sagt er.

Kritik an seiner Kriegsführung lässt er nicht gelten. Das zeigte er zuletzt auch, als er den Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, zurechtwies. Schon lange werden Saluschnyj politische Ambitionen nachgesagt. In Kiew heißt es, der Kampf um die Macht sei in dem in die EU und in die Nato strebenden Land schon wieder voll im Gange. Nicht nur Saluschnyj, sondern auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, ebenfalls kein Freund Selenskyjs, könnten dem Präsidenten bei einer Wahl gefährlich werden.

Doch die eigentlich für Anfang März geplante Präsidentenwahl fällt wegen des weiter geltenden Kriegsrechts aus. Der Glaube an den Sieg über Russland und die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 scheint indes unter den Ukrainern mit fast 70 Prozent weiter ungebrochen, wie Umfragen zeigen. Einen freiwilligen Verzicht auf Gebiete lehnen sie ab. dpa

VON ANDREAS STEIN UND ULF MAUDER