Die Kunst im Fadenkreuz

Klimaaktivisten hämmern in London auf Diego Velázquez' Werk „Venus vor dem Spiegel“ ein FOTO: PICTURE ALLIANCE / DPA/PA MEDIA/JUST STOP OIL

Die Antisemitismusdebatte der Documenta 2022 schwappte in dieses Jahr herüber und wird uns weiter beschäftigen. Kunst rückt zunehmend in den Kontext politischer Diskussionen. Da wird schon mal ein Velázquez-Bild mit Hämmern traktiert

Gibt es ein Foto, das uns Sorgen machen sollte, dann das eines zunächst schwarz verhängten und schließlich abgehängten Riesentransparents auf der Weltkunstschau Documenta im Jahr 2022. Warum das in einen Jahresrückblick auf 2023 passt? Weil diese Aktion Inhalt und Startpunkt einer Debatte über Antisemitismusvorwürfe war, über einen fragwürdigen Umgang mit Kritik - und weil sich das brisante Thema bis in dieses Jahr zieht und weiter ziehen wird.

War es richtig, jenes Werk eines Künstlerkollektivs aus Indonesien, das unter anderem mit antisemitischen Stereotypen gearbeitet hatte, wie es auch die Nationalsozialisten taten, aus dem Verkehr zu ziehen? Oder wäre es nicht ehrlicher, die Diskussion angesichts der Kunst zu führen, wie man es beim Beispiel eines Bilderbogens einer südamerikanischen Künstlerin tat, die sich in 2023 in der Bundeskunsthalle präsentierte? Man ließ ihr in Stellen antisemitisches, in jedem Fall israelkritisches Werk hängen, korrigierte Fehler und stellte es durch Texte und ein Gutachten kritisch in den Kontext einer der laufenden, historisch grundierten Debatte.

Zu viel Druck: Findungskommission für neue Documentaführung tritt zurück

Die es woanders in der Schärfe nicht gibt. Sowohl die Arbeit des Künstlerkollektivs als auch der Künstlerin wurden außerhalb Deutschlands gezeigt - ohne Beanstandung. Ein Dilemma: Man lädt sich in Deutschland Kunst, Künstler und Kuratoren aus dem „Globalen Süden“ ein, fordert aber, dass diese sich gefälligst an die moralischen Grundsätze dieses Landes zu halten haben. Eine an Bigotterie nicht zu überbietende Forderung.

Das Klima in der Szene ist gereizt - erst recht nach dem Überfall der Hamas auf Israel und der Reaktion des angegriffenen Landes. Bei der Frankfurter Buchmesse gab es Tumulte um eine proisraelische Eröffnungsrede, die Preisverleihung an eine palästinensische Autorin wurde verschoben. In diesem Klima trat jetzt auch die Findungskommission für eine neue Documenta-Führung zurück. Inmitten dieser polarisierenden Debatten, Anfeindungen und Pressionen könne man nicht arbeiten, hieß es. Nicht einmal auf einen Termin für die nächste Documenta kann man sich einigen. Von Kassel nach Mannheim: Dort wurde gerade die Foto-Biennale abgesagt, weil der Kurator, ein Fotograf aus Bangladesch, israelkritische Posts abgesetzt und eine „terroristische“ Bildsprache verwendet habe.

Kunst rückt zunehmend ins Fadenkreuz politischer Debatten. Eine Lehrerin, die ihren Schülern die Skulptur des nackten David von Michelangelo nahebringt, wird entlassen. In Museen werden Gemälde mit Nackten als sexistisch abgestempelt und abgehängt. Das geschieht nicht in Diktaturen oder fundamentalistisch-religiösen Staaten, sondern im sogenannten freien Westen.

Bilderstürmer auch an der Klimafront. Mitte 2022 startete eine Serie von Anschlägen, die noch anhält. 50 Angriffe auf Kunstwerke wurden bislang aufgelistet. Hier zählen nicht die Inhalte der Bilder, sondern offenbar die Vorliebe eines etablierten Bildungsbürgertums für Kunst in Sammlungen und Museen. Klimaaktivisten greifen des Bürgers liebstes Kind an, um diesen zu treffen, aufzurütteln. Und riskieren dabei die Beschädigung oder Zerstörung von unersetzbaren Originalen, von Meisterwerken von van Gogh, Monet oder Velázquez. Was für eine Hybris: Fürs Erreichen der Klimaziele bewerfen Aktivisten Gemälde mit Tomatensuppe, Kartoffelbrei, Kunstblut oder Buttercremetorte, kleben sich fest. Um gegen die Ölförderpläne der britischen Regierung zu protestieren, hauen die Kritiker mit Nothämmern auf das Schutzglas eines Barockbildes ein. Das Bild im letzten Fall, „Venus vor dem Spiegel“ von Diego Velázquez, wurde übrigens bereits 1914 von einer militanten Frauenrechtlerin mit einem Fleischerbeil bearbeitet.

Vandalismus für eine bessere Welt? Geradezu harmlos mutet dagegen der Fall der jungen Juristin an, die unlängst ein eigenhändig gemaltes Porträt unter dem Pullover in die Bundeskunsthalle schmuggelte, wo es vier Wochen lang unerkannt hing, bis es beim Abbau der Schau entdeckt wurde. Die Demonstration einer eklatanten Sicherheitslücke wurde von der Bundeskunsthalle elegant überspielt, man reagierte milde, schwamm geschickt auf der Publicity-Welle mit.

Auch hier war Aktionismus im Spiel: Ob die Botschaft und Forderung einer besseren Repräsentanz von Laienkünstlern im elitären Kunstbetrieb angekommen ist? Wir werden sehen.

VON THOMAS KLIEMANN