Oft sind es persönliche Schicksale, die uns besonders nahe gehen, trauern lassen oder Hoffnung geben.

Geschichten, die uns berührt haben


Überleben und Neuanfang: Die verlorenen Fässer

Neun Fässer 2020er-Wein sind wieder aufgetaucht: Die Winzerinnen Dörte (links) und Meike Näkel haben sie jetzt abgefüllt
Neun Fässer 2020er-Wein sind wieder aufgetaucht: Die Winzerinnen Dörte (links) und Meike Näkel haben sie jetzt abgefüllt

Neun Fässer Wein - mehr ist Meike und Dörte Näkel vom Jahrgang 2020 nicht geblieben. Die Jahrhundertflut an der Ahr vom 14. Juli 2021 hatte alles mit sich gerissen. Aber diese neun sind wieder aufgetaucht, Fass für Fass, Fundstücke, die Hoffnung machten und die beiden Schwestern darin bestärkten, mit ihrem Weingut einen Neuanfang zu wagen.

Wie alle anderen wurden die beiden Winzerinnen von dem Ausmaß der Flut überrascht. Sie waren abends noch im Weingut und wollten die Ausstattung vor dem Hochwasser schützen, bis die Wucht des Wassers die Tore eindrückte und die Halle am Ahr-Ufer außerhalb von Dernau überflutete. Rund 75.000 Liter Wein in Tanks und 330 Fässer wurden weggespült-mitsamt den beiden Näkel-Schwestern, die Dernau schwimmend erreichten, sich in einer Baumkrone in Sicherheit bringen konnten und die Nacht dort ausharrten.

Am nächsten Tag schien es zunächst, als wäre ihnen vom Wein nichts geblieben. Doch irgendwo unter den Trümmern der Produktionshalle hatte sich ein Fass verklemmt. Drei Tage nach der Flut tauchte es bei den Aufräumarbeiten plötzlich aus dem Schlamm auf. Ein erster Lichtblick. Ihm folgten weitere: zwischen Rebstöcken verkeilt, mitten in Dernau, vor Brogsitters Gasthaus Sanct Peter in Walporzheim; sogar bis zum Weingut Adeneuer in Ahrweiler hatte es ein Fass mit dem Branding vom Weingut Meyer-Näkel geschafft. Meike und Dörte Näkel haben jedes einzelne nach Hause geholt.

Neun Fässer, neun mal 280 Flaschen, die dieses Jahr abgefüllt wurden. Sie stehen für Überleben, für Neuanfang und für die Zukunft der Weinregion Ahr. Caro Maurer


Auf dem Weg zurück ins Leben

Bianka Schell hat mir im Mai ihre Geschichte erzählt. Sie wollte anderen Mut machen - Menschen, die unvorstellbar Schmerzhaftes erlebt haben. Wie sie selbst.

Die Frau aus Troisdorf-Bergheim verlor 2015 ihre 25 Jahre junge Tochter an die unheilbare Krankheit Mukoviszidose. Sie fiel in ein tiefes Loch: Schell dachte immer an ihr verstorbenes Kind, weinte fast ununterbrochen, schlief kaum noch und besuchte drei Mal am Tag das Grab auf dem nahen Friedhof. Beim Tod der eigenen Tochter gibt es keinen Trost. Dennoch fand Bianka Schell zurück ins Leben – buchstäblich Schritt für Schritt.

Vor zwei Jahren begann sie damit, regelmäßig spazieren zu gehen. Erst waren es drei Mal in der Woche fünf Kilometer, inzwischen sind es zehn bis 15 pro Tag. „Wenn ich unterwegs bin, ist mein Kopf frei, die Trauer ist nicht mehr übermächtig, sondern ein Gefühl von vielen“, beschreibt die 58-Jährige, was sie während ihrer Laufrunden empfindet.

Eine Geschichte wie diese kann kein eindimensionales Happy-End haben. Aber Bianka Schell kann neben Trauer nun auch wieder Freude empfinden. Margit Warken-Dieke


Auf seine Weise ein Sieger

Er hat den Kampf nicht verloren, sondern auf seine Weise gewonnen.“ Es ist Weiberfastnacht, der 16. Februar, als das Management von Tim Lobinger die traurige Nachricht veröffentlicht. Der ehemalige Weltklasse-Stabhochspringer aus Meckenheim ist im Kreise enger Vertrauter – darunter Joshua Kimmich – in einem Münchner Krankenhaus gestorben. Seit der Erstdiagnose im März 2017 hat der Vater zweier Söhne und einer Tochter gegen die Leukämie gekämpft, fünf Chemotherapien und eine Stammzellentransplantation hinter sich gebracht, doch der ehemalige Athletiktrainer der Fußballer von RB Leipzig wusste schon eine Weile, dass es keine Heilung mehr gibt. Eines„seiner Lebensziele“, wie er es nennt, erreicht er noch: die Hochzeit seiner Tochter. Trotz Chemo, Corona, Intensivstation schafft er es: Lobinger führt Fee zum Altar. „An diesem Tag war ich nur der Vater der Braut, nicht der krebskranke Tim. Das tat mir unheimlich gut“, sagt er in einem Interview

Insgesamt gewann Tim Lobinger bei Welt- und Europameisterschaften fünfmal Edelmetall. Bei vier Olympischen Spielen trug er die deutschen Farben. Er wurde nur 50 Jahre alt. Tanja Schneider


Kämpfer für andere, obwohl er todkrank war

Sein Kampfgeist ist vielen ein Vorbild gewesen, aber den Kampf gegen den Krebs hat Andreas Winau verloren. Der 1968 in Rüdesheim geborene Rheingauer, der vielen Menschen im Ahrtal als Fluthelfer schlicht unter dem Namen „Andy“ bekannt war, ist im November gestorben. Er erlag seiner schweren Krankheit. Die Betroffenheit im Flutgebiet ist groß. Besonders bei denen, denen er geholfen hat, und bei jenen, mit denen er geholfen hat.

„Jetzt bist Du einfach nicht mehr da, gekämpft hast Du mehr als ein Jahr und viele Herzen weinen heut um Dich. Jeder Tag mit Dir war ein Geschenk. Eines, das nicht jeder bekommt. Danke, dass Du unser Leben bereichert hast.“ So verabschiedet sich etwa Fluthelferin Nadia Ayche von ihrem Mitstreiter. Mit ihm akquirierte und verteilte sie Sachspenden von mehr als zwei Millionen Euro. Andere drückten ebenfalls aus, wie sehr sie den Mann mit dem ansteckenden Lachen vermissen, der Hoffnung an die Ahr brachte und sich nie unterkriegen ließ.

Fünf Tage nach der Flut war Andreas Winau erstmals zum Helfen ins Ahrtal gekommen. Schon da durchlitt er eine Chemotherapie. „Die Menschen haben mir einfach so leid getan, dass ich mir gesagt habe: Da musst du sofort hin“, sagte er einmal im GA-Gespräch. Erst half er in Eimerketten“ mit, Schlamm aus den überfluteten Häusern zu befördern. Dann besann er sich auch wegen seiner körperlichen Konstitution aufs Organisieren von Sachspenden. Mehrere Hundert Holz- und Elektroöfen, zighundert Kubikmeter Brennholz, mehr als 100 Fahrräder sowie Waschmaschinen, Trockner und Möbel waren es wohl.

Ein Herzensprojekt Winaus waren die „Hochbeete fürs Ahrtal“: Fertige Kästen, aus Obstkisten gebaut, mit Folie ausgekleidet, die mit Erde bestückt und mit Pflanzen von Erdbeere und Petersilie bis Lauch und Tomate an Privatleute sowie an Kindergärten und Schulen geliefert wurden. Als gelernter Garten- und Landschaftsbauer, der zuletzt im Wasserbau am Rhein tätig war, hatte er diese Aktion initiiert: „Die Menschen im Flutgebiet hatten ja keine Gärten mehr, und wo die Böden verseucht waren, war kein Gemüse mehr anzubauen.“ Es gebe ihm ein schönes Gefühl, die Menschen glücklich zu sehen, hat Andreas Winau einmal erklärt. Und was ihm bei der Tätigkeit im Ahrtal immer wichtig war: „Dass wir uns nicht aufdrängen, sondern nur unsere Dienste anbieten. Wir sind nur Gäste im Ahrtal, die helfen.“

Selbst vom Krankenbett in einer Wiesbadener Klinik aus hat er geholfen, Güter akquiriert und Transporte gemanagt. Erst im Mai wurde Winau mit anderen, die sich bei der Bewältigung der Flutkatastrophe im Ahrtal engagiert hatten, mit der Verdienstnadel des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet. Andrea Simons


Kleiner Luis, krankes Herz

Warten am Köln-Bonner-Flughafen: Luis und Andrea Dautz kurz vor dem Abflug in die USA FOTO: HOLGER WILLCKE
Warten am Köln-Bonner-Flughafen: Luis und Andrea Dautz kurz vor dem Abflug in die USA FOTO: HOLGER WILLCKE

Rote Haare, frecher Blick und coole Sprüche. Luis könnte eine TV-Rolle als Lausbub spielen - wäre da nicht seine schwere Erkrankung. Seit seiner Geburt kämpft er gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester um sein Leben.

Als Luis Mutter mir vor einem Jahr die Leidensgeschichte des damals Vierjährigen erzählte, spürte ich Demut, weil die eigenen Kinder und das Enkelkind gesund sind. Zuhören hilft den Betroffenen. Es fühlte sich für mich an, als wenn man für Minuten die Last ein wenig tragen hilft. Auf die Welt kam Luis mit dem schwersten angeborenen Herzfehler, den es gibt, dem hypoplastischen Linksherzsyndrom. Dieser Herzfehler ist nicht heilbar. Er kann lediglich in drei großen Operationen am offenen Herzen korrigiert werden. Dabei entsteht ein Blutkreislauf, der es Betroffenen ermöglicht, erst einmal zu leben. Dieser Umbau zum sogenannten Fontankreislauf wird erst seit 1990 durchgeführt und ist keineswegs mit einem gesunden Herz-Kreislauf-System zu vergleichen. Der künstliche Fontankreislauf wirkt sich im Laufe der Zeit schädlich auf andere Organe aus.

Luis hatte im Juni 2021 seine letzte große Herz-OP. Kurze Zeit danach erhielt die Familie die Diagnose “Lebensbedrohendes Eiweißverlustsyndrom über den Darm-PLE“. Weihnachten 2022 stand er vor seiner Reise in die USA. Eine minimalinvasive Behandlung eines Spezialistenteams am Nemours Children's Hospital in Wilmington war damals die letzte Hoffnung für den Jungen aus Geislar. Die beiden Eingriffe verliefen größtenteils erfolgreich. Allerdings konnte der Eiweißverlust nicht gänzlich gestoppt werden.

Aus Sorge, die Kosten würden ihnen über den Kopf wachsen, dachte Familie Dautz darüber nach, die Erkrankung ihres Sohnes öffentlich zu machen und um Spenden zu bitten. Weil die Krankenkasse nicht alle Kosten übernehmen wollte, wagten sie den Schritt. Die Verzweiflung war bei den Eltern deutlich spürbar. Ich fieberte förmlich mit. Die Resonanz des Aufrufs war überwältigend. Schon nach kurzer Zeit waren über zwei Spendenportale von 5500 Spendern rund 370.000 Euro zusammengekommen. Im Januar wird Luis sechs Jahre alt. Er wartet auf eine Organspende für sein krankes Herz. Das Daumendrücken geht weiter. Holger Willcke


Doppelte Tragödie am Herseler Rheinufer

Der Alarm lautete am hochsommerlichen Pfingstmontag: „Wasser-/Eisrettung“. Ort des Geschehens: Das Rheinufer am Herseler Werth. Bereits auf der Anfahrt verdichteten sich die Informationen: ein dramatischer Badeunfall.

Ein Junge, sieben Jahre alt, war in den Strom geraten. Der kleine Kerl konnte nicht schwimmen. Dementsprechend hatte die Leitstelle im großen Stil Rettungskräfte nachalarmiert, insbesondere Boote und Strömungsretter. Als ich eintraf, kreiste bereits ein Rettungshubschrauber über dem Werth. Zufahrtsstraßen füllten sich mit Einsatzfahrzeugen aller Art.

Offizielle Information gab es nicht, den Verantwortlichen stand der Stress ins Gesichts geschrieben. Denn: Die Einsatzkräfte suchten inzwischen auch nach dem Vater des Jungen, der wohl versucht haben musste, seinen Sohn zu retten. Auch er konnte nicht schwimmen, es handelte sich dem Vernehmen nach um eine Flüchtlingsfamilie, die einen schönen Badetag verbringen wollte. Der Vater begab sich in Lebensgefahr, um sein Kind zu retten. Was hätte ich getan, wenn eines meiner Kinder in den Rhein geraten wäre? Bei dem Gedanken lief es mir eiskalt den Rücken herunter.

Immer mehr Retter trafen ein, derweil war rund eine halbe Stunde verstrichen. Zu lang, um als kleiner Nichtschwimmer im Rhein zu überleben. Kurze Zeit später gab es traurige Gewissheit: Auf einer Trage brachten Retter den Siebenjährigen ans Ufer, wo sie versuchten, ihn zu reanimieren; zehn Meter von mir entfernt. Mein Kopfkino sprang an. Auch wenn ich an Unfallstellen viele Tragödien miterleben musste, waren die Ereignisse am Pfingstmontag schwere Kost für meine Seele. Ich verließ das Ufer. Aus Selbstschutz, um durchzuatmen. Der kleine Junge sollte den Badeausflug ebenso wenig überleben wie sein Vater. Für mich eine Tragödie, die ich nie vergessen werde. Axel Vogel