Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie schnell sich ein Virus ausbreiten und viele Menschen in Gefahr bringen kann. Schon länger bedrohen hochansteckende Bakterien, die gegen Antibiotika resistent sind, besonders geschwächte Patientinnen und Patienten. Am Universitätsklinikum Bonn (UKB) werden Methoden der Mathematik genutzt, um die Ausbreitungsmuster von Erregern zu identifizieren, deren Verbreitung zu stoppen und möglichst auch vorab, also präventiv, zu verhindern. „Es geht darum, durch unser wachsendes Wissen über die Verbreitungsmuster schließlich vor die Welle zu kommen“, so Prof. Dr. Nico T. Mutters, Direktor des Instituts für Hygiene und Öffentliche Gesundheit am UKB. „Um Maßnahmen gegen eine Ausbreitung gezielt und effektiv einsetzen zu können, muss dies alles erkannt und analysiert werden. Solche Kontaktmuster und Netzwerke können durch Digitalisierung und moderne IT-Verfahren aufgespürt und dargestellt werden.“
Eine Infektion ist dynamisch, sie breitet sich in sozialen Netzwerken aus. Mitten im Pandemie-Geschehen steht deshalb die Reproduktionszahl R im Fokus: Sie gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter unter den aktuellen Bedingungen im Durchschnitt ansteckt. Sie verändert sich, wenn etwa Kontaktbeschränkungen erlassen oder gelockert werden. Anfang März 2020, zu Beginn der ersten Corona-Welle, lag die Reproduktionszahl laut Robert Koch-Institut bei einem Wert von ungefähr 3, ab etwa dem 22. März stabilisierte sie sich wegen der reduzierten zwischenmenschlichen Kontakte um den Wert 1.
Mit Hilfe von mathematischen Modellierungen lassen sich die Effekte der einzelnen Maßnahmen abschätzen. Mutters: „Infektionen werden zu einem großen Teil innerhalb einer bestimmten sozialen Schicht verbreitet. Der soziale/private Bereich ist der Hotspot.“ Als effektivste Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus haben sich erwiesen – in dieser Reihenfolge: Treffen in Kleingruppen einschränken, Reisebeschränkungen, Bildungseinrichtungen schließen, Persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung stellen, Lockdown. Ein Lockdown sei zwar zu Beginn effektiv, werde nach 23 Tagen aber sogar zum Inzidenztreiber, da die Menschen sich nicht mehr an die Vorgabe hielten.
Moderne IT macht Dashboarding zur Steuerung der Pandemie möglich
In der derzeitigen Phase der Pandemie ist die Lage in den Kliniken wichtigster Parameter für die Beurteilung des Infektionsgeschehens. Die Stabsstelle Medizinisch-Wissenschaftliche Technologieentwicklung und -koordination (MWTek) am UKB hat schon im März 2020 ein lokales Corona-Dashboard entwickelt, das direkt aus der Krankenhaus-IT COVID-relevante Daten automatisiert aufbereitet – bei maximalem Datenschutz – und so einen besseren Einblick in die Lage auf den Stationen bietet. Inzwischen wird es schon von elf weiteren Unikliniken genutzt, circa 20 weitere werden laut MWTek-Leiter PD Dr. Sven Zenker folgen. Da die Daten in nahezu Echtzeit aus den verschiedenen Krankenhausinformationssystemen der beteiligten Universitätsklinika zusammengeführt werden, erhält man einen bundesweiten Überblick über das Infektionsgeschehen und die Systemlast. Einsehbar ist das Dashboard jederzeit unter coronadashboard.ukbonn.de .
Die anonymisierten Patientendaten geben Aufschluss über die Gesamtzahl der zu Behandelnden sowie deren Alter und Geschlecht. Außerdem werden Versorgungsniveau und die Verweildauer auf den Intensivstationen angezeigt. Zenker: „Damit lässt sich eine neue Dynamik der Infektion frühzeitig erkennen, sodass entsprechende Maßnahmen vorausschauend gesteuert werden können.“ Das langfristige Ziel dabei: eine kontinuierlich arbeitende Infrastruktur, die auch nach der Corona-Pandemie der schnellen Erfassung von Daten dient und somit das deutsche Gesundheitssystem unterstützt.
UKB-Virologie koordiniert Forschungs-Projekt „Immunebridge“ Viele Experten rechnen im kommenden Herbst und Winter wieder mit einem deutlichen Anstieg der COVID19-Infektionszahlen. Wie stark es dabei zu einer Belastung der Krankenhäuser und Intensivstationen kommen wird, hängt insbesondere von der Grundimmunität – durch Impfung oder Genesung – ab. Doch die ist unklar. „Zwar sind nach offiziellen Zahlen 33 Millionen Menschen in Deutschland von COVID-19 genesen, jedoch gibt es ein erhebliches Maß an Untererfassung, die je nach Phase der Pandemie, auf das 1,5 bis 4-fache der erfassten Fälle geschätzt wird“, sagt Prof. Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am UKB. Um diese Wissenslücke zu schließen, koordiniert er das Forschungsprojekt „Immunantworten gegen SARSCoV-2 bei Risikogruppen in der Allgemeinbevölkerung (Immunebridge)“: 29 500 Personen werden auf das Vorhandensein von Antikörpern gegen SARSCoV-2 untersucht. Dabei wird auch unterschieden, ob diese Antikörper durch eine Infektion oder die Impfung erworben wurden.
Im Rahmen des Projekts, das noch bis Dezember läuft, nehmen 16 500 erwachsene Personen, zufällig ausgesucht, Blutproben aus der Fingerspitze und schicken diese zur Analyse an ein Labor. Außerdem werden bestehende Populationsstudien gebündelt und eine synchronisierte Neuerhebung durchgeführt. Dadurch lassen sich auch Vergleiche mit vorherigen Studiendaten anstellen, sodass sich die Verbreitung von Antikörpern gegen das SARSCoV-2 Virus in Deutschland abbilden lässt.
Multiresistente und hochinfektiöse Erreger
Multiresistente Erreger (MRE), die sich zunehmend im Bereich Mensch, Tier und Umwelt ausbreiten, bedürfen besonders im Krankenhaus erhöhter Aufmerksamkeit, denn für geschwächte Personen kann eine Ansteckung tödlich sein. Ein Problem dabei: Viele Menschen sind von multiresistenten Keimen besiedelt, ohne zu erkranken, können diese aber weitergeben.
Im UKB werden Patienten deshalb auf MRE gescreent und im positiven Fall isoliert. Der Isolationsaufwand ist hoch: Er liegt bei mehr als 120 Minuten pro Tag und Fall. Gegenfinanziert wird dieser Aufwand nur bei genauer Dokumentation. Damit das Pflegepersonal dabei entlastet wird, hilft erneut die IT. Dr. Zenker: „Unsere Software ist in der Lage, die entsprechenden Daten automatisch aus der medizinisch erforderlichen Dokumentation herzuleiten.“
Schließlich sollen künftig über das Computer-basierte Frühwarnsystem SmICS Infektionen, Verdachtsfälle und mögliche Übertragungswege aufgespürt und dann frühzeitig eingedämmt werden können. Das Kürzel steht für „Smart Infection Control System“, eine Software, die entwickelt wurde, um bakteriellen Erregern auf die Spur zu kommen, die beispielweise über einen Händekontakt übertragen werden. Mutters spricht von einer „schlauen smarten Hygiene“: Da werden Patientenbewegungen sichtbar gemacht, Infektionsquellen und -häufungen automatisch erkannt. Mutters ist überzeugt: „Die Patientensicherheit wird sich weiter verbessern, da wir zukünftig schneller Erreger detektieren und zielgenauer hygienische Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen anwenden können.“ ldb