Digital Recruiting ist das Zauberwort der Personalgewinnung

Recruiting-Prozess: Wenn der Algorithmus über die Zukunft entscheidet

Moderne Büros mit anspruchsvollen Aufgaben brauchen gut ausgebildete Mitarbeiter. Die zu gewinnen ist eine Kunst. FOTO: ANT ROZETSKY/UNSPLASH

Achtung, in diesem Beitrag wird es technisch. Wir wollen niemanden verschrecken, aber leider ist es ein Fakt: Immer häufiger übernehmen Algorithmen die Vorauswahl im Bewerbungs- und Entscheidungsprozess einer Stellenbesetzung. Es hilft also, wenn man weiß, wie es läuft.

„Unsere Algorithmen screenen und kontextualisieren Lebensläufe automatisch. Für bessere, schnellere und fairere Einstellungsentscheidungen“ verkündet schon die Startseite von candidate-select.de und verspricht im gleichen Atemzug- oder sollten wir lieber sagen Digitalschriftzug - „zuverlässige Diagnostik von Bildung und Arbeitserfahrung“. Mit diesem Data-Driven-Recruiting, so das Versprechen der Softwarefirma, entdecken Unternehmen, „geeignete Bewerber:innen schneller denn je“.

Willkommen in der schönen neuen Welt des Bewerbungskosmos 2023. Galten vor einigen Jahren noch professionell gestylte Fotos als das Aushängeschild der Bewerbungsunterlagen, so ist das bewährte Konzept heute längst überholt. Eigentlich sollten Bewerber gar nicht mehr nach ihrem Aussehen oder ihrer sozialen Herkunft, nach Geschlecht oder anderen ehedem abzuhakenden Kriterien ausgewählt werden.

Das Zauberwort ist Digital Recruiting. „Der digitale Personalbeschaffungsprozess ist in der heutigen Zeit unabdingbar, denn daraus ergibt sich eine Win-Win-Situation“, heißt es auf der Seite des Onlinemarketing Treffpunktes omt.de. Zum einen profitiert die Personalabteilung, da online-Jobanzeigen kostengünstig und lange sichtbar sind. „Zum anderen profitieren die Bewerber, denn für sie ist der Bewerbungsprozess einfacher und schneller zu durchlaufen.“

Wie funktionieren diese Prozesse der Personalgewinnung? Wir fragen bei Conet an. Die IT-Firma ist gerade in das neue Hochhaus am Kanzlerplatz gezogen und laut Eigendarstellung„das kompetente IT-Beratungshaus für SAP, Infrastructure, Communications, Software und Consulting in den Schwerpunktbereichen Cyber Security, Cloud, Mobility und Data Intelligence.“ Topmodern also und natürlich immer interessiert an gut ausgebildeten Mitarbeitern, wie auch die lange Liste an offenen Stellen auf der Webseite zeigt. „Die Rekrutierung über Print-Anzeigen ist in unserer Branche weiter rückläufig. Online-Stellenanzeigen sind allerdings weiterhin eine effektive Maßnahme für die Personalsuche von IT-Fachkräften“, erklärt Andrea Rogowicz, Teamleiterin Recruiting bei Conet.

Worauf kommt es also an bei Bewerbern beziehungsweise bei der Suche nach der richtigen Person? Dr. Philipp Karl Seegers, Gründer und CEO bei Canidate Select mit Sitz in Köln, nennt das gesamte Verfahren „einen hochgradig Risikobehafteten Prozess“. Kein Wunder: Kognitive Fähigkeiten sollen genauso stimmen wie die Ausstrahlung beim Vorstellungsgespräch und die sozialen Kompetenzen. Hinzu kommt der Fakt, dass es so gut wie keine diskriminierungsfreien Auswahlmöglichkeiten gibt: Herkunft, Religion und Sprachkenntnisse spielen nach wie vor eine wichtige Rolle, obwohl vielleicht die rein fachlichen Fähigkeiten eines Bewerbers enorm sind.

Das Herausfiltern von potentiellen Kandidatinnen und Kandidaeine der großen ten ist sicherlich Aufgaben. Auch Conet nutzt die unterschiedlichen Online-Portale, um nach gutem Personal Ausschau zu halten. Letzten Endes kommt es aber immer auf den Menschen an. Und auf die Firma selbst - denn gute Fachkräfte können sich heute aussuchen, wo sie arbeiten möchten. Unternehmen müssen sich um Menschen bemühen und nicht umgedreht. „Vielfach fehlt das Bewusstsein, dass Arbeitgeber potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten für sich begeistern müssen“, meint Andrea Rogowicz.„Das fängt dabei an, sich auf die Zielgruppen einzulassen und sie passend anzusprechen. Suche ich etwa junge Talente, muss ich online und in sozialen Netzwerken aktiv sein. Bedürfnisse und Erwartungen der jeweiligen Zielgruppen müssen adressiert und berücksichtigt werden. Schnelligkeit und Verbindlichkeit im Prozess sind ebenso zentral. Unser Rat: Schaffen Sie eine positive Candidate Experience, in der sich Bewerbende ernstgenommen, wertgeschätzt und in ihrer Lebenswelt und ihren Erwartungen abgeholt fühlen.“

Wie kann man Mensch und Maschine am besten zusammenbringen? Candidate Select hat sich auf die Analyse von Bewerbungsunterlagen spezialisiert. Welche Noten hat der Bewerber in welchen Seminaren an welchen Hochschulen und Weiterbildungsinstituten erreicht? Anhand unzähliger Daten und Vergleiche lässt sich anhand dieser Analyse ziemlich genau prognostizieren, ob ein Kandidat für die ganz konkrete Stelle die passende Besetzung wäre. Durch diese Kontextualisierung von Lebensläufen“ können Personalmanager deutlich einfacher und objektiver eine Auswahl treffen. Das System greift übrigens auch für Bewerber selbst, die ihre Lebensläufe in eine Datenbank von Candidate Select aufnehmen lassen können. Geeignet ist dieses “case“-Verfahren vor allem für Unternehmen, die größten Wert auf hohe Bildungsabschlüsse legen und natürlich für Hochschulen. Und obwohl auch bei Conet natürlich Wert auf Zeugnisse gelegt wird, fehlt der Recruiting-Teamleiterin ganz oft der Hinweis auf die ganz persönliche Motivation der Bewerber, ihre Lösungskompetenz oder Teamfähigkeit.

Es ist also die Digitalisierung der Prozesse, die das Recruiting vieler Unternehmen prägt- und nicht die Auswahl selbst. „Durch ein hohes Maß an Individualität, Schnelligkeit im Prozess und einfache, verbindliche Kommunikation begleiten wir Bewerbende über den gesamten Recruiting-Prozess. So stellen wir sicher, dass sie stets optimal informiert und unterstützt werden - und der Bewerbungsprozess damit eine angenehme und wertvolle Erfahrung ist“, erläutert Andrea Rogowicz. Und damit ist es auch für den Außenstehenden gut zu wissen, dass er auch bei Digital Recruting nicht von einer Maschine ausgewählt wurde oder von einem Algorithmus. JÖRG WILD